Behinderte Kinder - Wie normales Selbstbewusstsein erlangen?
Mein Cousin ist körperlich schwer behindert. Er ist zwar mittlerweile schon 6 Jahre alt, aber er wächst schon seit seinem 1. Lebensjahr nicht mehr und muss einen Rollstuhl nutzen. Er hat außerdem schon an die 30 Operationen hinter sich und stark Fehlstellungen seiner Gliedmaße. Er leidet mit Sicherheit sehr, aber seine Eltern und eigentlich seine gesamte Familie war immer darauf bedacht, dass er trotzdem ein gesundes und normales Selbstbewusstsein erlangt. Er sollte sich nicht anders behandelt fühlen und er sollte auch nie denken, dass er seine Sonderstellung hat. Eigentlich waren wir alle immer bemüht, ihn ganz normal zu behandeln, so wie alle anderen 6jährigen in seinem Alter auch.
Eigentlich lief das die ersten Jahre auch ganz gut und er wusste sich zu wehren. Immerhin ist er 6 Jahre alt und er ist geistig auch total fit; sodass er genau abzuschätzen weiß, dass er behindert ist und andere Leute aber eben nicht. Es störte ihn immer extrem, wenn man ihn betüddelt oder wenn man ihn sogar auf den Arm nehmen will. Wir haben früh genug dafür gesorgt, dass er das deutlich macht, wenn es ihn stört und er sich von niemandem tragen oder anfassen lassen muss, wenn er das nicht mag. Heute kann er das prima und er wehrt sich. Er brüllt dann auch einfach schonmal 'Lass' mich sofort los!' und schlägt um sich. Eben genau das war uns wichtig und wir alle haben immer dafür gesorgt, dass er für seine Rechte kämpft und genau so etwas sagt. Niemand sollte das Recht haben ihn einfach aus seinem Rollstuhl zu heben und herumzutragen. Das kann er heute ganz gut und manchmal erntete er auch so etwas wie emotionalen Applaus von seinen Eltern, wenn er sich mal wieder lautstark gewehrt hat.
Doch irgendwann und irgendwie lief das offenbar aus dem Ruder. Heute glaube ich, dass er zu selbstbewusst ist und das vielleicht fast schon übergeht in eine Form der Frechheit. Er ist wirklich frech und unverschämt. Ich war vorgestern mit ihm auf dem Spielplatz und ein Mann war dort, der ihn dauernd angestarrt hat wegen seiner Behinderung; aber nicht eher böse, sondern wohl schon interessiert und plötzlich schreit mein Cousin ihn total laut an (er hat wirklich ein ausgeprägtes Ruforgan) 'Was glotzt du so dumm? Guck' nicht so dumm, du Arschloch!'
Ich meine, natürlich hatte er irgendwie recht und natürlich würde ich sowas wohl auch insgeheim denken. Aber ich spreche es natürlich nicht aus, weil ich einfach denke, dass es nichts ändert und sich vielleicht dadurch auch nicht besonders viel ändert. Weil er aber sein Leben lang dazu ermutigt wurde, den Leute einfach alles um die Ohren zu hauen, damit man aufhört ihn als einen Sonderling zu behandeln, muss ich mich heute ja auch nicht wundern, dass er sich so verhält. Ich frage mich, ob man diese Form des Selbstbewusstseins nochmal aus ihm heraus bekommen kann oder ob es eher so ist, dass in der Hinsicht einfach zu viel erlangt wurde. Glaubt ihr denn, ein Kind kann heute dann noch verstehen, dass es sich dennoch zumindest in Maßen etwas respektvoller gegenüber seinen Mitmenschen verhalten muss? Wie kann man so etwas denn langsam erlangen?
Ich finde, dass da trotz allem guten Willen in der Erziehung etwas falsch gelaufen ist. Sicher ist es richtig, dass man gerade einem behinderten Kind besonders beibringen muss, dass es selbstbewusst auftreten und seine eigenen Interessen hörbar machen muss, aber Selbstbewusstsein hat ja nichts mit Unhöflichkeit zu tun. Man hätte von Anfang an darauf achten müssen, dass er zwar deutlich macht, wenn er etwas nicht möchte, aber dies eben auf eine höfliche, wenn auch bestimmte Weise tut. So wäre es in der von dir beschriebenen Situation ja vollkommen in Ordnung, zu dem Mann zu sagen: "Hör' auf, mich anzustarren!" Man muss ja nun wirklich keine Kraftausdrücke oder Beleidigungen benutzen um sich selbst zu behaupten - das müssen auch nicht-behinderte Kinder lernen.
Nun ist es natürlich schade, dass dein Cousin schon sechs Jahre lang vermittelt bekommen hat, dass es in Ordnung ist, anderen gegenüber unhöflich zu sein, wenn sie etwas tun, was ihm nicht gefällt. Es ist aber trotzdem nicht zu spät, jetzt damit anzufangen, ihm einen etwas besser überdachteren Umgang beizubringen. Man muss ihm jedes Mal, wenn er so "ausrastet", ruhig erklären, dass es zwar sehr gut ist, dass er seinem eigenen Willen Ausdruck verleiht, aber dass er seine Worte anders wählen muss, weil er andere sonst verletzt oder beleidigt, was ja nicht schön sind. Sicher wird er zu Anfang Schwierigkeiten haben, mit der Umstellung klarzukommen, aber wenn alle Beteiligten da wirklich bestimmt und sicher auftreten und ihm trotzdem vermitteln, dass er geliebt wird, wie er ist, wird er sich daran gewöhnen.
Der Wille hier ging in die richtige Richtung und ich finde es vollkommen in Ordnung, ja sogar notwendig, dass er sich zu wehren weiß. Nur weil man behindert ist, heißt das nicht, dass man dumm ist oder alle das machen können was sie wollen mit einem.
Hier scheitert es vielleicht nicht unbedingt am Selbstbewusstsein, sondern einfach an der Wortwahl. Es ist durchaus ein Unterschied, ob man zu dem Mann sagt: "Es wäre schön, wenn sie aufhören würde mich anzustarren" oder ob man ihn anschreit und beleidigt.
Vielleicht ist das auch eher passiert, weil er sich dadurch unwohl gefühlt hat? Hätte er wirklich Selbstbewusstsein hätte er sich vermutlich dann aber anders verhalten. Entweder er würde da insgesamt drüber stehen, oder er hätte sich anders ausgedrückt. Das empfinde ich persönlich dann eher so, als würde er sich angegriffen fühlen und weiß sich nicht anders zu helfen. Und das hat dann mit "zuviel Selbstbewusstsein" natürlich weniger was zu tun.
Gerade weil er intelligent ist, ist er wütend. Ich glaube, er ist wirklich wahnsinnig wütend auf die Leute, die ihn anstarren und auf ihn herabsehen und ihn behandeln als würde gar nicht merken was sie mit ihm machen und wie sie ihn ansehen. Von daher kann ich ihm nicht verübeln, dass er so sauer ist. Ich glaube, dass seine Eltern selbst viel zu lange dachten, dass er gar nicht versteht was sie so reden. Es kam bestimmt nicht selten vor, dass die drei gemeinsam einen Spaziergang machten, irgendwer wieder gestarrt hat und die beiden zueinandern im Stillen dann sagten 'So ein Arschloch' und er das aufgeschnappt hat. Wie gesagt, ich glaube, ihnen war selbst lange nicht so bewusst, dass er sehr intelligent ist und sich sehr viel merken kann. Ich weiß nur nicht wie man einem Kind dann in dem Alter nochmal beibringen kann, dass es falsch ist, ehrlich zu sein.
Denn ich selbst habe ja auch keine Wahl als ihm zuzustimmen und zu sagen, ja, du hast Recht, der Mann ist offenbar wirklich ein Idiot. Und dann muss ich eben anfügen, dass man sich so etwas lieber denkt und nicht ausspricht. Und weil er ein normales Kind ist, fragt er natürlich, weshalb man nicht ehrlich sein darf und weshalb es jetzt falsch ist, seine Gedanken und Gefühle eben nicht zu zeigen (wo man ihm ja jahrelang genau das Gegenteil eingetrichtert hat). Ich denke auch, dass die Eltern etwas zu lasch waren. Sicherlich kann man ihnen das nicht als Vorwurf machen. Wenn einem das eigene Kind so leid tut, dann ist es für mich nur verständlich, dass man ihm so einiges durchgehen lässt.
Sippschaft hat geschrieben:Denn ich selbst habe ja auch keine Wahl als ihm zuzustimmen und zu sagen, ja, du hast Recht, der Mann ist offenbar wirklich ein Idiot.
Das finde ich nicht. Du könntest zum Beispiel sagen: "Du hast recht, es ist sehr unhöflich von dem Mann, dich so anzustarren, aber es ist auch nicht in Ordnung, ihn zu beschimpfen. Nächstes Mal solltest du das anders ausdrücken." Und dann kannst du ja noch eine beispielhafte höflichere Ausdrucksform nennen.
Kinder verstehen das "Wie du mir, so ich dir"-Prinzip immer recht gut. Wenn du deinem Cousin also fragst, wie er es fände, wenn ihn jemand "Arschloch" oder "dumm" nennen würde, wird er sehr schnell nachvollziehen können, warum er solche Schimpfworte nicht benutzen soll.
Ich kann die Wut von deinem Cousin schon nachvollziehen. Mein Sohn hat schwere Neurodermitis und wie die Leute darauf oft reagieren, kann oft sehr verletzend sein, auch wenn ich weiß, dass sie es wohl nicht böse meinen. Erst gestern waren wir auf einem Babyflohmarkt. Wir wurden wie üblich von allen Seiten angestarrt, Kinder nehmen sich auch kein Blatt vor den Mund, zeigen auf ihn und sagen nur "Bäh, wie sieht der denn aus?" und das sind oft nur die höflichen Varianten.
Zweimal haben die Leute gar nicht die Augen von ihm lassen können, sind aber trotzdem weitergegangen und haben beinhart dabei einen Tisch komplett umgestoßen, weil sie nur auf uns gestarrt haben. Also bei einem ist der Tisch komplett umgefallen, beim zweiten Mal (eine andere Person) ist nur über die davor stehenden Spielsachen gefallen, konnte sich aber gerade noch fangen um nicht ganz hinzufallen.
Kurz und gut, wir stehen auch sehr häufig im Mittelpunkt und das nicht unbedingt im positiven Sinn. Natürlich weiß ich, dass der Ausschlag meines Sohnes wirklich arg aussieht und eine derartige Form der Neurodermitis habe ich davor auch noch nie gesehen, obwohl ich einige Kinder auch mit starker Neurodermitis kenne. Ich würde vielleicht auch schauen. Das alles weiß man und sehr oft stehe ich da auch drüber. Ich bin es mittlerweile gewohnt. Aber man hat nicht immer einen guten Tag und man mag einfach nicht jeden Tag so angestarrt werden. An manchen Tagen würde ich die Leute auch einfach nur niederschreien.
Natürlich kann man das nicht machen, ich habe es auch noch nicht gemacht, weil die Leute wie gesagt auch nicht wirklich was dafür können. Wenn jemand außergewöhnlich aussieht, wird einfach gestarrt. Das ist so, auch wenn es nicht richtig ist. Ich frage mich auch sehr oft, wie ich meinem Sohn da das nötige Selbstbewusstsein vermitteln soll. Bis jetzt hat er natürlich noch kein Problem damit. Die Leute wundern sich auch noch, wie man so ausschauen kann und trotzdem lieb lachen kann.
Ich habe auch manchmal das Problem, ihm normale Grenzen zu setzen. Mit seinen 16 Monaten fängt natürlich auch er an, seinen Willen durchzusetzen. Ich bin eigentlich jemand, der schon gut Grenzen setzen kann. Ich halte das für sehr wichtig. Jetzt geht es meinem Sohn sowieso schon so schlecht und wenn er sich aufregt reißt alles binnen Minuten noch viel mehr auf und der Zustand verschlechtert sich. Eine Zeit lang habe ich dann auch versucht solche Zustände zu vermeiden und ihm seinen Willen zu lassen. Zum Glück habe ich das nicht lange gemacht, weil ich denke dass das trotz seiner Behinderung der falsche Weg ist.
Mein Sohn muss sicher mehr als viele anderen Kinder leiden, er wird es sicher auch oft nicht leicht haben und ich werde ihn immer unterstützen und für ihn da sein. Allerdings muss es trotzdem Grenzen geben. Eine Behinderung darf und soll kein Freipass für alles sein. Wenn dein Cousin jetzt so herumschimpft, dann ist das nicht in Ordnung, auch wenn ich das nachvollziehen kann, dass es ihm ein Bedürfnis ist. Wie oben geschrieben, kann man nicht immer gut drauf sein und die Blicke und Reaktionen anderer Menschen kann wirklich extrem belastend sein. Trotzdem muss er einen Weg finden, anders damit umzugehen und sollte so nicht reagieren. Ein Selbstbewusstsein zu haben, heißt nicht, dass man sich aufführen darf, wie man will.
Link dieser Seite https://www.talkteria.de/forum/topic-120412.html
Ähnliche Themen
Weitere interessante Themen
- Palmen Pflanzen - brauche Tipp / Empfehlung 1078mal aufgerufen · 1 Antworten · Autor: Triops · Letzter Beitrag von Verbena
Forum: Garten & Pflanzen
- Palmen Pflanzen - brauche Tipp / Empfehlung
- Gartenbambus im Treppenhaus überwintern? 1134mal aufgerufen · 1 Antworten · Autor: ZappHamZ · Letzter Beitrag von Verbena
Forum: Garten & Pflanzen
- Gartenbambus im Treppenhaus überwintern?
- Intimrasur - Bekomme immer Pickel! 1505mal aufgerufen · 1 Antworten · Autor: Wifey · Letzter Beitrag von Verbena
Forum: Fingernägel, Haut & Haare
- Intimrasur - Bekomme immer Pickel!
- Anleitung für Star Frisur 1129mal aufgerufen · 1 Antworten · Autor: Osterhasi · Letzter Beitrag von Verbena
Forum: Fingernägel, Haut & Haare
- Anleitung für Star Frisur
- Ist Sprühwachs für die Haare schädlich? 2317mal aufgerufen · 1 Antworten · Autor: winny2311 · Letzter Beitrag von Verbena
Forum: Fingernägel, Haut & Haare
- Ist Sprühwachs für die Haare schädlich?