Abgrenzungen des Begriffs "Behinderung"

vom 19.03.2010, 20:24 Uhr

Ich habe schon seit längerem ein wenig im behinderten Bereich zu tun, also zumindest habe ich auch immer wieder ein wenig im Integrationsbereich gearbeitet, jedoch frage ich mich seit einiger Zeit immer wieder, wo die begriffliche Abgrenzung einer Behinderung ist. Ab wann gilt ein Mensch als behindert?

Mir ist schon klar, dass es dafür einen eigenen Katalog mit Richtlinien gibt. Darin sind sämtliche Krankheiten und Störungen aufgelistet und so kann man auch erkennen zu welchem Grad die Behinderung ist. Also wie ein Arzt eine Behinderung feststellt ist mir klar, weil er sich an diese Richtlinien halten muss.

Ich hinterfrage eher diese Richtlinien und wie es zu diesen kam. Um mein Anliegen besser zu erklären, gebe ich einige Beispiele.
Mein Sohn zum Beispiel leidet an schwerer Neurodermitis. Da der ganze Körper betroffen ist, ist er mit einer 50%igen Behinderung eingestuft. Ich habe das am Anfang zwar nicht ganz nachvollziehen können, weil ich mir schon dachte, dass er sicher arm ist, weil er soviel leiden muss, aber ich habe es doch eine Zeitlang verharmlost, mit dem Argument, wieso soll er behindert sein, weil es ist ja nur seine Haut betroffen. Inzwischen habe ich selber begriffen und miterlebt, dass er doch sehr viele Einschränkugen hat. Er muss eine strikte Diät einhalten, er hat massive Schlafstörungen und schläft im Durchschnitt nicht länger als 30 bis 45 Minuten und so ist natürlich auch der ganze Tagesablauf davon betroffen. In seinem Ausmaß sehe ich das inzwischen auch als eindeutige Behinderung.

Ein wenig verwundert oder um ehrlich zu sein, war ich sogar ein wenig schockiert, dass ein Kind mit Down-Syndrom ebenfalls eine 50%ige Behinderung hat. Aber vielleicht kann man das auch wirklich vergleichen, auch wenn es ganz verschiedene Bereiche sind. Der eine ist physisch und der andere halt mehr psychisch beeinträchtigt.

Ich bin auch Legasthenietherapeutin und habe so auch viel mit legasthenen Kindern zu tun. Vor kurzem kam eine Mutter mit ihrer Tochter zu mir. Die Tochter hat massivste Probleme und das bereits in der 1. Klasse Volksschule. Das Kind wurde ausgetestet, es ist geistig völlig gesund, also keine Lernschwäche, jedoch eine massive Legasthenie. Mit dieser Beeinträchtigung hat das Kind kaum oder nur geringe Chancen dem Unterricht zu folgen. Die Kleine kann trotz Anstrengung die Wörter auch nicht von der Tafel abschreiben. Die Mutter ruft jeden Tag nach der Schule eine andere Mutter an und die sagt ihr dann durch, was auf der Tafel stand. Wie man jedoch in so einer Situation umgeht, ist sicher ein eigenes Thema. Tatsache ist jedoch, dass dieses Kind eine massive Beeinträchtigung hat und trotzdem nicht als behindert gilt.

Jetzt könnte man natürlich im ersten Moment meinen, dass es doch egal ist, ob und zu wieviel Prozent man eine Behinderung hat. Nur so ist es dann doch auch wieder nicht ganz, weil es sehwohl einen Unterschied macht. Ich kenne jetzt zwar nicht die Situation in Deutschland, aber in Österreich bekommt man ab einer 50%igen Behinderung eine erhöhte Familienbeihilfe. Auch sonst gibt es natürlich Unterschiede. Angefangen von der Kinderbetreuung (ein behindertes Kind bekommt oft eine zusätzliche Betreuung) bis hin zu eventuellen weiteren finanziellen Hilfestellungen.

Wo fängt nun Behinderung an? Mir ist natürlich klar, dass es schwierig ist, eine Linie zu ziehen, aber wo wäre die eurer Meinung nach? Kennt ihr weitere Beispiele?

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» tournesol » Beiträge: 7760 » Talkpoints: 69,99 » Auszeichnung für 7000 Beiträge



Ich kann dir nur meine Erfahrungen im Bereich Lese-Rechtschreibschwäche in Deutschland schildern. Und da gibt es keine bundeseinheitliche Regelung dazu. Es ist dabei so, das bei uns in Sachsen erstmal alle Kinder der zweiten Grundschulklasse auf LRS getestet werden. In jeder Stadt gibt es mindestens eine Grundschule, welche spezielle Förderklassen für die LRS hat. Das bedeutet, das die dritte Klasse auf zwei Schuljahre gestreckt wird.

Dazu bekommt jedes Kind einen schriftlichen Nachweis, das eine LRS festgestellt wurde. Denn die Eltern müssen ein Kind nicht in die LRS-Förderung geben. Selbst wenn es angeraten wird, besteht keine Pflicht. Allerdings bringt diese Bescheinigung über die vorhandene LRS halt für das Kind einige Vorteile, wie mehr Zeit bei Klausuren.

In anderen Bundesländern gibt es solche Förderklassen nicht und demzufolge kann man halt die LRS auch nicht als Behinderung in dem Sinne in den Katalog aufnehmen. Denn da gibt es ja diese Richtlinien, wonach ein Mensch mit Handycap (Behinderung wird seit gut einem Jahr meist nicht mehr gesagt), eingestuft wird. Und diese Einstufungen sind halt bundeseinheitlich.

Um bei deinem Beispiel mit der LRS zu bleiben. Würde man nun diese Tests und entsprechend zentral organisierter Förderung für jedes Bundesland festlegen, dann könnte man eben auch erst dann festlegen, ob man die LRS in den Katalog für die Richtlinien einer Behinderung aufnimmt und vor allem wie welche Ausprägung der LRS eingestuft wird.

» Punktedieb » Beiträge: 17970 » Talkpoints: 16,03 » Auszeichnung für 17000 Beiträge


Gute Frage! Für mich persönlich beginnt eine Behinderung ab dem Zeitpunkt, wo man im alltäglichen Leben an seine Grenzen stößt. Eine körperliche Behinderung ist klar zu gliedern: Bei Deinem Sohn zum Beispiel. Hier sehe ich auch die Behinderung. Wie das Wort ja schon sagt, ist er in seiner Freiheit behindert bzw. gestört. Das muss ja nicht immer was geistiges sein. Wenn er durch die Neurodermites nicht mehr richtig schlafen kann, dann ist das ja eindeutig eine Behinderung. Was denn sonst?

Viel schwerer finde ich es hingegen Persönlichkeitsstörungen. Ab wann ist man behindert? Hier die Grenze zu ziehen ist schwamig und nicht auf jeden übertragbar. Jemand mit Depressionen kann man gleich vom Arbeitsmarkt ziehen und auch zu Hause geht nicht mehr viel. Er ist behindert in seiner Freiheit. Aber andererseits ist eine ADS-Erkrankte auch behindert, kann aber mehr oder weniger schaffen. Diese Form der Erkrankung geht aber meist noch arbeiten, wenn auch mit Mühen und Komplikationen. Eigentlich wären diese Menschen auch als behindert einzustufen. Ich finde einfach, den Begriff "Behindert" kann man nur individuell einsetzen.

Eine Bekannte von mir hat eine Schwester. Diese ist geistig und körperlich behindert. Hier ist die Grenze von "normal" bis "eingeschränkt" sehr deutlich zu zeichen. Sie kann nichts alleine und braucht sogar bei der Nahrungsaufnahme hilfe. Eine andere Freundin von mir hat eine Persönlichkeitsstörung, wirkt nach Außen aber ganz normal. Privat holt sie sich Hilfe beim Therapeuten. Wenn mans nun genau betrachtet, ist sie eigentlich auch behindert, da sie ohne den psychologischen Rat nichts mehr hinbekommen könnte. Das Wort ist zu verallgemeinernt.

» Humpen2020 » Beiträge: 356 » Talkpoints: 0,63 » Auszeichnung für 100 Beiträge



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