Islamismus ein Argument gegen den EU-Beitritt der Türkei?
Gestern wurde in meinem Erdkundekurs der Beitritt der Türkei zur EU diskutiert. Besser gesagt, die Lehrerin ließ uns ein paar Pro- und Kontra-Argumente aufschreiben. Für den Beitritt spricht zum Beispiel die wirtschaftliche und politische Verflechtung der Türkei mit Europa, das Wirtschaftswachstum, sowie die Trennung von religion und Staat. Einige Kontra-Argumente waren der hohe Anteil des primären Wirtschaftssektors am Bruttoinlandsprodukt und die hohe Analphabetenquote bei Frauen.
Außerdem stand bei den Gegenargumenten: "Zunehmender Islamismus -> einziger islamischer Staat in Europa". Diesen Punkt fand ich nicht ganz nachvollziehbar, denn aus "zunehmendem Islamismus" folgt erstens nicht, dass die Türkei der einzige islamische Staat Europas ist und zweitens wurde nicht erklärt, was zunehmender Islamismus zu bedeuten hat.
Ich habe dann nachgefragt, denn ich finde, dass hier Islamismus unterstellt wird, ist schon eine Anschuldigung. Es klingt, als würde die Türkei Terroristen ausbilden oder so etwas. Die Lehrerin meinte aber, Islamismus heißt einfach nur "starke Religiosität", dass der Islam an Einfluss gewinnt und auch wieder in die Politik schwappt. Außerdem wäre die Türkei der einzige islamische Staat in Europa und würde daher kulturell nicht zu Europa passen.
Ist das denn wirklich so? Gibt es diese Entwicklung in der Türkei? Oder ist das Argument eigentlich nur eine "Ausrede" für die Angst vor Terroristen? Ist es gerechtfertigt, dass die Türkei ihrer Religion wegen nicht beitreten darf?
Es ist eigentlich interessant, dass ihr im Erdkundekurs auch politische Themen diskutiert, die sicher eigentlich nichts mit dem Fach zu tun haben. Ist wohl unter fächerübergreifendem Lernen zu verstehen. Was ja auch positiv ist.
Was nun das Gegenargument des Islamismus angeht, ist das eher schwer zu halten. Die Türkei als laizistischer Staat hat eine durch deren Verfassung garantierte Trennung zwischen Staat und Religion! Als vor kurzem dann die dem Islamismus nahestehende Partei die Wahlen gewonnen hat, drohte das Militär offen mit einem Putsch um die Türkei vor einer politischen Islamisierung zu bewahren! Vielleicht nicht allein auf Druck der EU (aber eben auch!) hat das Militär sich aber zurückgehalten. Das hätte man sich 1683, als die Türken Wien belagerten, auch nicht träumen lassen. Das türkische Militär will jetzt gegen die Radikalen in Stellung gehen, und das christliche Europa droht sich einzumischen, wenn das geschehen sollte.
Eigentlich ist das also kein Argument. In Europa gibt es da ganz andere Staaten. So ist der Teil des Kosovo, der nicht serbisch kontrolliert wird, ebenfalls Islamisch. Wobei hier eher ein Problem durch die organisierte Kriminalität vorherrscht.
Schwieriger bzgl. Islamismus könnte da z.B. Bosnien sein. Und das, obwohl es gar kein islamischer Staat ist. Sondern einfach nur, weil viele der Staatsbürger schlicht dort eingebürgerte Dschihadisten sind. Als Folge des Bürgerkrieges.
Das Religionsargument kommt übrigens immer wieder und zuletzt hat man ja auch bzgl. Griechenland eben aus diesem Grund bedenken gehabt. Wobei ich finde, dass die Frage der Religion bisher immer das geringste Problem innerhalb der EU war. Selbst in Nordirland.
Zurück zur Türkei: im Rahmen der Befriedung des Balkans ist doch auch geplant, Staaten wie Albanien ebenfalls einen Weg in die EU zu ebnen. Und das wäre ja auch ein moslemisch dominierter Staat innerhalb der EU. Und wie nun die Kultur als ausschließendes Kriterium hier hineinspielen soll, verstehe ich nicht. Jedenfalls könnte ich mir vorstellen, dass es sogar innerhalb der bestehenden EU einen Aufschrei gäbe, wenn man behaupten würde, eine "kulturelle Gleichheit" anzustreben.
Bei den Gegenargumenten verstehe ich das Argument, die Türkei wäre dann der "einzige islamische Staat in der EU". Schließlich wurde vom Erdkunde-Kurs ja schon hervorgehoben, dass die Türkei (seit Atatürk) eine laizistische Verfassung hat. Natürlich ist die Bevölkerung der Türkei überwiegend muslimischen Glaubens. Die EU hat sich aber nie als Christenclub verstanden wissen wollen. Sonst hätten Adenauer und Co ja auch ihre Probleme mit dem Laizismus Frankreichs gehabt. De Gaulle hätte unserem Konrad Adenauer bestimmt eine gegeigt.
Die Argumentation der Beitrittsgegner in Deutschland richtet sich aber nicht gegen den Laizismus, sondern gegen den Islam. Und das zeigt, dass viele Beitrittsgegner in Deutschland die EU noch nicht einmal verstehen. Denn in den europäischen Vertragswerken ist neben der Freizügigkeit auch die Nichtdiskriminierung ein wichtiges Rechtsgut.
Klare Antwort: Definitiv nein. Es kann kein Gegenargument zum Beitritt in die Europäische Union sein, wenn man anderen Glaubens ist.
Sicherlich kann man der Türkei etwas vorwerfen. So hat sie Disparitäten verstärkt (siehe Anatolien), benutzt Ressourcen als Machtmittel (siehe GAP) und ist in gewisser Weise noch sehr konservativ eingestellt. Möglich auch, dass sie etwas unmodern sind und ihre Gesetze dies auch sind (beispielsweise Todesstrafe).
Allerdings kann man dem Land nicht vorwerfen, dass es dem islamischen Glauben angehört. Sicherlich gibt es sehr radikale Anhänger der islamischen Bewegung in der Türkei. Aber auch in Ländern, die bereits in der EU sind, gibt es Menschen, die radikale Anhänger gewisser Religionen sind. Beispielsweise ist hier auch das Christentum zu nennen, welches gerade in Spanien und Portugal doch sehr extreme Glaubende besitzt. Diese Länder beziehungsweise die Mitgliedschaft der Länder wird jedoch nicht in Frage gestellt.
Viel mehr sollte man dies als weiteren Vorteil einer Mitgliedschaft ansehen. So hat man doch quasi ein Tor zur islamischen Welt geöffnet, welches Handelsbeziehungen und politische Beziehungen ermöglichen würde. Möglicherweise könnte man so auch die Beziehungen zum Iran, zum Irak und zu Palästina verbessern, was eine der wichtigsten Aufgaben der zukünftigen Regierungen sein muss. Daher ist es Quatsch, wenn die CDU fordert, dass die Türkei keinesfalls Mitglied werden darf.
Es geht nicht um die Religion sondern um Institutionen die sie vermittelt. Eine Gesellschaft definiert sich über ihre Institutionen, ihre Regeln im Umgang miteinander. Eine komplette Überschneidung dieser Regeln kann es natürlich nie geben zwischen 2 Ländern, meist nichtmal zwischen zwei Individuen. Aber die Institutionen, die diese Individuen leiten, formen und zu dem machen was sie sind und werden, die sollten in einem einheitlichen Europa etwa gleich sein.
Und die Kirche gehört nunmal noch zu den wichtigsten Institutionen. Das ist so, weil sie unsere Werte und Normen seit hunderten Jahren prägt, unsere Eltern, Großeltern geprägt hat, von denen wir wiederum geprägt sind. Auch ohne Kirche zu unterstützen oder gutzuheissen, sind wir nunmal von einem zumindest entfernt christlichen Menschenbild geprägt. Ich möchte keine Spekulationen oder Vorurteile bezüglich des Islam tätigen, lediglich den komplett anderen Charakter in Geschichte und somit Erziehung und Wertevermittlung hervorheben. Ja es hat sich viel getan und das Institutionensystem hat sich geändert, dem typisch europäischen angeglichen. Die Frage ist halt, ob diese Angleichung persistent und bereits weit genug fortgeschritten ist. Und das zu beurteilen ist leider sehr schwer und ist meist von persönlichen, subjektiven Erfahrungen geprägt, eine objektive Beurteilung ist da glaube ich sehr sehr schwer.
matthias1990 hat geschrieben:Möglich auch, dass sie etwas unmodern sind und ihre Gesetze dies auch sind (beispielsweise Todesstrafe).
Die gibt es selbst in Deutschland (formell) noch sowie in anderen EU Staaten!
matthias1990 hat geschrieben:Sicherlich gibt es sehr radikale Anhänger der islamischen Bewegung in der Türkei.
Ironischerweise leben die radikalsten Muslime in der EU in den Staaten, wo man direkt mit den westlichen Werten konfrontiert wird. Gerade die Vorzeige EU Staaten Deutschland und Frankreich haben hier Größenordnungen sich radikalisierender Muslime erreicht, da würde man in der Türkei schon lange gegengelenkt haben. Hier reich bereits der Versuch aus, dass eine Partei nur halbwegs den Laizismus in Frage stellt um das Militär aus den Löchern zu holen.
matthias1990 hat geschrieben:Beispielsweise ist hier auch das Christentum zu nennen, welches gerade in Spanien und Portugal doch sehr extreme Glaubende besitzt. Diese Länder beziehungsweise die Mitgliedschaft der Länder wird jedoch nicht in Frage gestellt.
Nicht zu vergessen Italien, Polen, Irland und die Ostblockstaaten! Dazu kommen jede Menge evangelikale (und damit christlich-fundamentalistische) Strömungen in traditionell protestantischen Staaten. Der christliche Fundamentalismus der hier seitens der Evangelikalen und Katholiken an den Tag gelegt wird unterscheidet sich fast gar nicht vom islamistischen - mit dem einzigen Unterschied, dass man sich nicht in die Luft jagt.
Herr Lehmann hat geschrieben:Auch ohne Kirche zu unterstützen oder gutzuheissen, sind wir nunmal von einem zumindest entfernt christlichen Menschenbild geprägt.
Das ist wirklich Unsinn und eine Meinung wie sie gerne die Kirche predigt wenn es um ihre Eisen im Feuer geht. Ironischerweise hat gerade die Kirche das europäische Selbstbild so mitgeprägt, dass alles was wir heute als typisch europäische Werte ansehen in Opposition zur Kirche entstand als Reaktion auf sie! Was denkst Du, warum die Kirche dies sonst jahrhundertelang bekämpft hat? Und heute sind es auf einmal christlich geprägte Werte?
Und die Werte die gerne der Kirche zugeschrieben sind, sind "natürliche" Werte die jede entwickelte Gesellschaft hervorgebracht hat - und diese lassen sich auch in Naturreligionen oder anderen Religionen wiederfinden.
Die Türkei ist ein viel zu säkularer Staat um als islamitisch eingestuft zu werden. Problematischer ist eher die Situation in den Anrainerstaaten Syrien und Irak, wo inzwischen nahezu ungehindert Islamisten aus aller Welt ausgebildet werden und wieder zu uns kommen. Deren Forderung nach einem islamischen Staat ertönt auch hier aus Deutschland und auch von hier ziehen Kämpfer für diesen Staat in den Krieg und eben nicht für Demokratie.
Sollte sich die EU abwenden, sehe ich eher eine Gefahr der Islamisierung der Türkei, wobei der Islam dort sicher nicht so ausgeprägt ist wie in Pakistan oder Saudi-Arabien.
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