Sterbenden Freund nicht besuchen, weil er selbst schuld ist?
In meiner Nachbarschaft wohnt eine Dame, die ich öfters mal im Alltag unterstütze. Dabei habe ich natürlich auch ihren Mann schon häufiger gesehen und das bevor er so krank wurde. Er ist an Lungenkrebs erkrankt und ihm wurde wohl auch schon etwas von der Lunge entfernt, aber die Chemo hilft ihm nicht, weil er schon sehr weit fortgeschrittenen Krebs hat.
Nun ist er seither bettlägerig und man sieht ihn natürlich nicht mehr. Er raucht aber offensichtlich weiter und trinkt auch. Das war schon seit Jahren bevor so und ist also auch für seinen eigentlich besten Freund kein Geheimnis. Dieser hat jedoch jetzt für sich entschlossen, dass er ihn nicht mehr besuchen will, weil er seinem besten Freund ( beide sind über 40 Jahre befreundet ) die Schuld an seiner Erkrankung gibt.
Sein bester Freund kann also nicht verstehen, dass wenn man sterbenskrank ist, wieso er noch weiter raucht und trinkt. Deswegen sieht er nicht ein, wieso er ihm die Hand halten soll und überhaupt noch vorbeigehen soll, um ihm oder seiner Frau bei alltäglichen Dingen zu helfen.
Es ist mir schon nachvollziehbar, wenn auch der beste Freund mit den Nerven am Ende ist, aber für das restliche Verhalten habe ich kein Verständnis. Kann man hier von selber Schuld sprechen und sich damit raus reden, den besten Freund nicht besuchen zu wollen oder glaubt Ihr, dass hier vielleicht der Eigenschutz des besten Freundes wegen der Angst im Vordergrund steht?
Wenn man hört, dass ein nahestehender Mensch sterben wird, dann kann man sehr unterschiedlich reagieren und diese Art der Reaktion ist sicherlich auch normal, weil man es einfach nicht wahrhaben kann, nicht verstehen will. Natürlich ist einem rational klar, was passieren wird, aber man drückt das auf Seite und redet sich mit einem "Er ist doch selber schuld" heraus, damit man eine Begründung hat es nicht so nahe an sich heran kommen lassen zu müssen.
Wäre ich nun mit dem Freund des Sterbenden bekannt, würde ich ihm versuchen klar zu machen, dass man als Freund nicht immer alles richtig macht und manchmal ach so richtig in die Scheiße greift, mit seinen Entscheidungen, aber eine Freundschaft nicht nur an den guten Tagen gemessen wird, sondern auch daran wie sich die Personen verhalten, wenn mal ein nicht so guter Tag ist. Die Zeit nun zu schmollen, auf eine Entschuldigung oder was auch immer zu warten, hat er nicht. Trauer hat verschiedene Stufen und wenn er so weiter macht, dann schafft er es nicht noch mal mit ihm zu reden, bevor er stirbt und das nach so vielen Jahren der Freundschaft.
Es gab auch schon eine Person, zu der ich nicht mehr gehen konnte und dann ganz egoistisch fern geblieben bin, aber die Person hat das auch nicht mehr mitbekommen und hatte andere geliebte Menschen bis zur letzten Minute um sich herum. Man muss immer wissen zu welchen Entscheidungen man stehen kann. Es ist schlimm sich nachher zu ärgern, den passenden Moment verpasst zu haben, das habe ich nämlich auch schon erlebt. Zwar nicht, weil ich die Person nicht mehr sehen wollte, aber kam für den letzten Besuch zu spät.
Mit dem Trinken und Rauchen aufzuhören, wenn man sterbenskrank ist, macht ja nun überhaupt keinen Sinn. Einen sterbenden Freund nicht zu besuchen, ist unmenschlich oder feige. Mehr kann ich eigentlich nicht dazu sagen, wenn die Geschichte denn nun so stimmt, dass der Grund die vermeintliche eigene Schuld des Freundes ist, dass er stirbt.
Es mag feige sein oder nicht, aber schwere Krankheit und Tod lassen die meisten vermeintlichen "Freunde" sehr schnell das Weite suchen. Ich habe es vor etlichen Jahren bei meiner Mutter gesehen. Die war rein medizinisch gesehen nicht "selbst schuld", aber es gab gegen Ende eigentlich nur noch ihre unmittelbare Familie, die sich für sie interessiert hat. Für den Rest der Welt war sie praktisch zu Lebzeiten schon tot.
Klar, Krebs im Endstadium sieht nicht lecker aus, die betroffene Person ist nicht mehr "unterhaltsam", platte Aufforderungen zum "positiv Denken" erscheinen allmählich schal, und auch der körperliche Verfall erinnert an die eigene Verletzlichkeit. Und die Vorstellung, der Mensch sei doch irgendwie "selber schuld" gewesen (vielleicht hat sie ja heimlich gesoffen?) ist doch ungemein beruhigend, weil man sich dann einreden kann, selber verschont zu bleiben, weil man immer aus frischen Zutaten selber kocht und Sport macht.
Sprich, Krebs und Co. zeigen das wahre Gesicht aller Beteiligten, und die Vorstellung, dass sich Freunde und Verwandte ums Sterbebett versammeln und unter Tränen Abschied nehmen, macht sich vielleicht im ZDF-Sonntagsfilm gut. Die Realität ist brutal, und der schaut kaum jemand gerne ins Auge.
Zu einem gewissen Grad finde ich mittlerweile sogar Verständnis dafür: Wenn sich jemand offensichtlich über Jahrzehnte hinweg zu Tode geraucht und gesoffen hat und das Umfeld nur hilflos zusehen konnte, ist es oft ein Akt des Selbstschutzes, sich von der Person zu distanzieren, Sterbebett hin oder her. Irgendwann sind auch die eigenen Kräfte aufgebraucht.
Auch mir ist natürlich bewusst, dass einen Freund sterben zu sehen bei jemanden wirklich emotional alles abverlangt, was man manchmal überhaupt in der Lage ist zu stemmen. Dessen bin ich mir natürlich bewusst und ich rede selten mit dem Kumpel, der entsprechend seinen besten Freund nicht mehr besuchen geht, aber wenn, höre ich auch heraus, dass er „selbst schuld“ sei und weiter raucht, sodass er dann kein Mitleid mehr mit ihm hat.
Den sterbenden Mann kenne ich aus der Nachbarschaft natürlich und er war mir betrunken immer unangenehm aufgefallen. Ansonsten nüchtern war er sehr freundlich usw. Doch auf die Nachfrage seiner Frau, ob ich ihr ab und an mal helfen kann, auch wegen dem Vierbeiner, den sie gemeinsam haben, habe ich trotzdem ja gesagt. Sonst war ihr Mann einkaufen usw. und ich habe ein Auto, da falle ich einfach nicht von um.
Sollte wirklich keine emotionale Angelegenheit dahinter stecken, empfinde ich dieses „selber schuld“ als absolut ekelhaft. Doch es ist eben doch so, dass gerade in dieser schwierigen Zeit man erst einmal wirklich sehen kann, wer am Ende da ist und wer nicht. Zumal jetzt einem sterbendem Menschen noch dafür Vorwürfe zu machen, wo man all die Jahre mit gesoffen und mit geraucht hat, ist schon sehr frech. Hat der beste Freund anders als sein bester Freund wohl Glück gehabt, nicht im selben Boot zu sitzen.
Und als ob der sterbende Freund jetzt noch aufhören muss und wozu auch? Ich kann seine Reaktion diesbezüglich, dass er jetzt auch nicht mehr aufhören muss, nachvollziehen. Es gibt ja jetzt auch keinen Grund mehr dazu, sodass ich das schon nachvollziehen kann und nicht verstehe, wie ich mir als selbst rauchender bester Freund noch ein Urteil diesbezüglich erlauben kann.
Ich würde ungern an die Freundschaft im Allgemeinen zweifeln, muss aber auch sagen, dass man in dieser Zeit merkt, wer da ist und wer nicht. Spricht eben nicht gerade für den besten Freund. Krebs ist nicht schön, der Tod nun einmal auch nicht, aber sich von Beginn an zurückzuziehen ist für mich was anderes als zu sagen, ich kann ihn nicht mehr besuchen, weil er immer schlimmer ausschaut. Er geht ja gar nicht dort hin usw.
Man kann für jemanden da sein ohne für sein Verhalten oder ähnliches Verständnis aufbringen zu müssen. Natürlich kann man sich darüber ärgern das jemand der an Lungenkrebs erkrankt ist, weiter raucht und somit seine Krankheit eventuell noch schlimmer zu machen. Allerdings würde mich dies persönlich nicht davon abhalten für meinen sterbenskranken Freund da zu sein. Vor allem nicht wenn man weiß das es schon dem Ende zu geht.
Allerdings weiß ich auch das jeder anders mit Trauer umgeht. Die einen versuchen noch die letzte Zeit zusammen zu genießen, viele verlieren sich in Trauer bei so einer niederschmetternden Diagnose. Andere werden wütend und versuchen irgendjemandem die Schuld an der Situation zu geben. Der Freunde deines Bekannten klingt nach letzterem. Vielleicht braucht er einfach noch einige Zeit um die Situation so wie Sie ist zu akzeptieren.
Ich hoffe auf jeden Fall das er es schafft die Situation und das Verhalten seines Freundes zu akzeptieren. Denn es gibt nichts schlimmeres als es zu bereuen sich von einem guten Freund oder eines Familienmitglieds nicht verabschiedet zu haben.
Ich würde das eher als Schutzmechanismus sehen. Man muss sich nicht mit seiner Hilflosigkeit und Trauer beschäftigen solange man auf die Person wütend sein kann weil sie ja "selbst Schuld" ist.
Ich habe das genau so auch in meinem Bekanntenkreis erlebt. Da ging es um einen tödlichen Autounfall, wahrscheinlich auf Grund von Aquaplaning, möglicherweise wegen überhöhter Geschwindigkeit und es hat wirklich lange gedauert bis die Angehörige einfach akzeptiert hat, dass die Schuldfrage total irrelevant ist und überhaupt nichts an den Tatsachen ändert.
Und davon abgesehen - ich glaube man kann als Außenstehender verdammt schlecht beurteilen wie sehr eine Sucht einen Menschen im Griff haben kann. Ich habe ja selber mal geraucht und auch mehrmals vergeblich versucht aufzuhören, aber ich habe es trotzdem überhaupt nicht verstanden, dass Mitpatienten nach einer Lungen Operation, teilweise mit Sauerstoffflasche, vor der Klinik im Raucherbereich standen. Für mich wäre das in deren Situation überhaupt keine Option gewesen. Natürlich hätte ich aufgehört zu rauchen.
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