Spürt ihr eine zunehmende Verrohung in der Gesellschaft?
Viele Menschen beklagen ja eine immer zunehmende Verrohung in der Gesellschaft und machen dies auch an verschieden Beispielen von verbaler und auch physischer Gewalt fest. Habt ihr auch diesen Eindruck oder haltet ihr solche Argumentierungen eher für etwas übertrieben? Was sind denn eure Empfindungen und Erfahrungen zu diesem Thema und welche Meinung würdet ihr denn da vertreten?
Meine Meinung ist nach wie vor, dass "früher" eben nicht alles besser war. Beispielsweise hat eine Ohrfeige meinem Vater vor 70 Jahren, als er noch ein kleiner Bub war, garantiert nicht weniger weh getan, als sie heute seinem Enkelkind tun würde, aber Eltern, Lehrer, und auf dem Land sogar der Pfarrer beim Religionsunterricht haben schon öfter herzhaft hingelangt. Generell hatten die Schwächeren in der Gesellschaft, egal, ob alte Menschen, Ausländer, Menschen mit Behinderungen oder einfach nur Frauen bis vor relativ kurzer Zeit wirklich nichts zu lachen in unserer Gesellschaft. Allein schon von daher kann ich keine "Verrohung" feststellen.
Auch wenn man heute immer jault, dass Kinder und Jugendliche keinen Anstand mehr haben, glaube ich auch nicht, dass dies wirklich zunimmt. Auch hier habe ich die Anekdoten meines Vaters von "früher", und daraus den Eindruck gewonnen, dass riskantes Verhalten, mehr oder weniger legale Drogen und Kleinkriminalität ebenfalls noch bis vor relativ kurzer Zeit mehr oder weniger als normale Entwicklungsstufe eines Heranwachsenden angesehen wurden. Meine Theorie ist zudem, dass die Leute "früher" einfach noch mehr und härter arbeiten mussten. Auch die akademisch nicht so bewanderten Zeitgenossen haben Stellen beispielsweise auf dem Bau, in der Gastronomie oder in der Landwirtschaft gefunden und sind nicht erst mit 30 ins Berufsleben eingetreten, sondern schon mit 15. Da blieb nicht mehr viel Zeit fürs Verrohen.
Wohlgemerkt: Ich behaupte auch nicht, dass heutzutage alles besser sei, aber wenn ich die Wahl habe, in der Gesellschaft der 1950er oder 1960er Jahre (als Beispiel) zu leben oder heutzutage, nehme ich die moderne Verrohung lieber in Kauf als die der guten alten Zeit.
Ich bin da immer ein bisschen unsicher, ob uns da nicht ein wenig die Vergleichsmöglichkeiten fehlen. Allerdings scheint besonders das Internet auf einige Menschen eine enthemmende Wirkung zu haben. Bei einigen Themen scheint es so, als wären sie früher unterdrückt worden, weil es dazu kaum Rückhalt gab. Jetzt kann jeder für jede noch so krude Idee irgendwo mit großer Sicherheit Unterstützer finden.
In der Realität sind heute ja viele Dinge anders als vor einigen Jahrzehnten. Beispielsweise dürfen Lehrer die Kinder nicht mehr erziehen, indem sie ihr Schlüsselbund, die Kreide oder sonst etwas nach ihnen werfen. Sie müssen heutzutage sogar eine Anzeige fürchten, wenn sie sich prügelnde Kinder trennen und das Kind oder die Eltern darin unangemessenes Verhalten oder gar eine Belästigung sehen. Interessanterweise scheint die erzwungene Zurückhaltung der Lehrer viele Kinder erst darin zu bestärken, sich daneben zu benehmen. Hier sehe ich eine deutliche Verrohung. Besonders dann, wenn auch noch die Eltern auftauchen und die Schuld bei allem und jedem sehen, aber ganz sicher nicht bei ihrem Kind.
Im Internet zeigen sich auch viele Anzeichen von Verrohung. Die Leute haben oft keine Hemmungen, sich gegenseitig zu beschimpfen, zu beleidigen oder zu erniedrigen. Die Anonymität könnte das Problem sein, aber immer mehr Leute schreiben unter ihrem richtigen Namen und scheinen trotzdem zu vergessen, dass es sich bei ihrem Gesprächspartner tatsächlich um einen Menschen handelt.
Ich sehe das ähnlich wie meine Vorredner. Über die "anmaßende Jugend" haben sich schon Erwachsene im alten Griechenland beschwert und sich eine schwarze Zukunft ausgemalt. Gerade wenn man in die Vergangenheit schaut, ist diese deutlich roher gewesen, weil sie unzivilisierter war. Gerade wenn man heute von No-Go-Areas spricht, muss man dabei auch die Vergleiche zur Vergangenheit ziehen. Solche Gebiete gibt es nicht erst seit kurzem, sondern schon jahrhundertelang. In manchen Großstädten konnte man schon früher gewisse Gassen und (nur als Beispiel) Hafengegenden aufsuchen, ohne damit rechnen zu müssen, überfallen und ausgeraubt, wenn nicht sogar ermordet zu werden.
Der Grund, warum die Verrohung heute so sehr beschrien wird, liegt meiner Meinung nach an dem Großaufgebot an Medien. Dank Smartphone, Online-Newsdiensten und sozialen Netzwerken sind wir jederzeit in der Lage überall alles zu erfahren. Jede Straftat wird aufgrund der lohnenden Klicks zu einer Riesenstory aufgebauscht, um ordentlich abzukassieren. Von der selben Menge an gewalttätigen Vorfällen hat man vor 25 Jahren gerade mal einen Bruchteil (nämlich die schlimmsten) erfahren. Der Rest erschien vielleicht in Lokalzeitungen, aber nicht im selben Stil wie heute. Zusätzlich tun die Fake-News ihr Übriges, die ein Maß an Kriminalität zusätzlich vorspiegeln, das gar nicht existiert. Die Richtigstellung wird später ja gar nicht mehr wahrgenommen.
Mein Fazit: Die Gesellschaft ist nicht unbedingt mehr verroht als in der Vergangenheit, wir nehmen einzelne Straftaten nur deutlicher wahr, da sie emotional formuliert und überall erreichbar für uns sind.
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