Schuldgefühle haben, obwohl man selbst unschuldig ist?

Meine Freundin meinte vor kurzem zu mir, dass sie sich richtig schuldig fühlen würde, weil eine Arbeitskollegin sich im Büro das Bein gebrochen hatte. Sie sei über ein Kabel gestolpert, wobei meine Freundin selbst gar nichts dafür konnte. Es war nicht ihr Kabel gewesen und sie hatte es auch nicht so ungünstig platziert. Dennoch würde sie sich nun Vorwürfe machen und meinte, dass sie die Situation vielleicht hätte verhindern können, wenn sie früher ins Büro gekommen und das Kabel auf die Seite gelegt hätte.

Natürlich ist es unsinnig, sich da Vorwürfe zu machen und sich schuldig zu fühlen, was ich meiner Freundin auch gesagt habe. Dennoch fühlt sie sich schlecht, wobei sie vermutlich einfach noch geschockt ist. Hattet ihr selbst schon einmal starke Schuldgefühle, obwohl ihr selbst unschuldig wart und gar nichts für eine Situation konntet?

Sicher kann deine Freundin in dem Moment nichts dafür, aber trotzdem kann ich es verstehen, dass sie sich in dem Moment Gedanken darüber macht, wie sie die Situation hätte verhindern können. Das ging mir auch schon mal so, dass ich diese Gedanken hatte. Aber direkt als Schuldgefühle würde ich das nicht bezeichnen. Es sind einfach Gedanken, die dann kommen, wenn man über so eine Situation länger nachdenkt.

Schuldgefühle an sich sind leider gut geeignet, um Mitmenschen zu manipulieren und nach der eigenen Pfeife tanzen zu lassen. Deswegen habe ich das Gefühl, dass manchen Leuten schon von Kindheit an bewusst oder unbewusst vermittelt wird, dass sie immer an allem schuld sind und sich gefälligst mehr anstrengen müssen oder durch Zusatzleistungen einen Ausgleich für den Schaden schaffen, den sie angerichtet haben.

Wenn man dieses Selbst- und Weltbild erfolgreich in jemandem verankert, hat man im Idealfall eine unwahrscheinlich fleißige und engagierte Person, die die eigenen Bedürfnisse ständig hintanstellt, langfristig zur Verfügung. Und das bringt zumindest einer Seite erhebliche Vorteile.

Wer diese Erfahrungen gemacht hat und es gewohnt ist, unhinterfragt die Schuld für alle Missgeschicke bei sich selbst zu suchen, wird logischerweise auch dann von Schuldgefühlen gequält, wenn er oder sie objektiv gesehen gar nicht schuld sein kann. Ich bin im Rahmen meiner (ansonsten recht gelungenen) Erziehung auch zumindest teilweise mit dem Gefühl groß geworden, dass nie die anderen schuld sind und dass es immer eine gute Idee ist, die Verantwortung zu übernehmen und sich zu entschuldigen.

Mittlerweile habe ich das Muster jedoch halbwegs durchschaut und versuche meine hin und wieder aufploppenden unberechtigten Schuldgefühle rational zu durchdringen und zu verstehen, dass sie mit der Realität schon lange nichts mehr zu tun haben. Mir täte es also auch leid, wenn jemand in meiner Gegenwart über ein Kabel fällt und sich weh tut, aber mittlerweile bin ich in der Lage, mich nicht mehr persönlich verantwortlich dafür zu fühlen, wohin andere Leute ihre Füße setzen.

Selber hatte ich noch keine richtigen Schuldgefühle, wenn ich unschuldig war. Wobei ich die Freundin schon verstehen kann. Wenn sie früher da gewesen wäre, wäre es ja eventuell wirklich nicht passiert oder man hätte die Kollegin besser fangen können, aber letztendlich darf man so nicht denken, weil das einen psychisch fertig macht und man die Situation damit auch nicht verbessern kann.

Diese was wäre wenn Fragen sind einfach nur albern. Auch wenn die Dame mit dem gebrochenen Bein 5 Minuten eher aus dem Haus gegangen wäre, ihre Augen mal aufgemacht hätte wo sie läuft oder einen anderen Weg genommen hätte, hätte man meinen können es zu vermeiden. Ist aber nicht eingetroffen und folglich bringen diese Fragen rein gar nichts, außer dass man sich seelisch zermürbt und der Kopf mit diesem ganzen Kram blockiert ist.

Von daher vertrete ich die Auffassung, dass ich mich für nichts Schuldig fühlen muss wofür ich nichts kann. Selbst wenn es mein Kabel gewesen wäre und es ungünstig gelegen hat, dann ist es auch noch die Dame selbst die ihre Augen nicht aufgemacht hat und die Füße nicht vom Boden angehoben hat. Somit ist sie selbst daran ebenso beteiligt und Schuld wie ich auch. Aber deswegen ein schlechtes Gewissen einreden und mich damit foltern kommt für mich nicht in Frage, es ist passiert, ändern kann ich es nicht mehr und dann macht mal halt das beste daraus.