Schlechter Mensch nach dem Tod als Gutmensch sehen

vom 30.06.2015, 08:43 Uhr

Ein Onkel von mir ist vor einem halben Jahr verstorben. Er war kein guter Mensch. Er hat Frau und Kinder geschlagen, war oft betrunken, war sehr dominant und wehe einer hat ihm widersprochen oder nicht darauf gehört, was er gesagt hat. Meine Tante hatte schon mehr als einmal vor sich von ihm zu trennen. Mein Onkel starb, als er betrunken im Winter mit dem Fahrrad in den Straßengraben fiel und dort erfror.

Es war also wirklich kein guter Mensch. Aber seitdem er tot ist, wird er als Gutmensch gefeiert. Selbst meine Tante redet sich ein, dass es ein toller Mann war und wenn man sie darauf anspricht, dann heißt es, dass man herzlos ist, weil man schlecht über ihn redet. Aber warum feiert man einen wirklich schlechten Menschen nach seinem Tod als Gutmensch? Mir würde das nicht in den Kopf kommen. Ich habe ihn ja erlebt und weiß, dass er nicht so gut war. Warum aber sind manche Menschen dazu geneigt dann mehr Gutes zu sehen als Schlechtes?

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» MissMarple » Beiträge: 6786 » Talkpoints: 0,00 » Auszeichnung für 6000 Beiträge



Man redet eben nicht schlecht über Tote und verdrängt auch gerne. Es ist ein bisschen so wie die Menschen die nach einer Trennung dann nur noch dem Guten der Beziehung hinterher trauern, auch wenn die Beziehung mies war.

Erlebt habe ich das nach dem Tod einer Person auch schon und konnte es auch nicht nachvollziehen. Immerhin waren die Taten ja schlecht und das sollte man sich dann auch nicht schön reden. Das hat auch nichts damit zu tun, dass sich die Person ja nicht mehr verbal wehren kann, sondern man sollte Tatsachen dann auch einfach nicht verdrehen und ehrlich sein.

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» Ramones » Beiträge: 47746 » Talkpoints: 6,02 » Auszeichnung für 47000 Beiträge


Bei deiner Tante kann ich mir vorstellen, dass sie sich nicht eingestehen will, die besten Jahre ihres Lebens an einen uneinsichtigen, gewalttätigen Säufer verschwendet hat. Dafür habe ich auch Verständnis: Nicht jeder Mensch ist stark genug, derart hässlichen Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Bei genauer Betrachtung lügen wir uns alle in die eigene Tasche.

Außerdem ist es ganz normal, dass Geschehnisse und Erfahrungen im Rückblick verklärt werden. Das merkt man ja schon, wenn man an den letzten Urlaub oder an die eigene Schulzeit zurück denkt, und umso mehr bei Verstorbenen, die man zumindest irgendwann mal geliebt hat.

Ich kann mir vorstellen, dass deine Tante zumindest zu Anfang ihrer Beziehung auch ein anderes Bild von deinem Onkel hatte, das du wahrscheinlich gar nicht kennst. Daher trauert sie vielleicht weniger um den abgewrackten Typen aus späteren Jahren, sondern vielmehr um den charmanten, vielversprechenden jungen Mann, den sie kennen gelernt hat. Aber das sind natürlich Spekulationen.

Deshalb habe ich durchaus Verständnis dafür, dass Verstorbene im Rückblick positiver gezeichnet werden, als man sie zu Lebzeiten erlebt hat. Allerdings habe ich auch schon das genaue Gegenteil erlebt. Dabei wurde über den Verstorbenen aber nicht schlecht geredet oder gelästert, sondern es gab eher einen stummen Konsens, dass es für alle von Vorteil sei, dass diese Person nicht mehr ist. Wie man so schön sagt: Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Desinteresse.

» Gerbera » Beiträge: 11319 » Talkpoints: 49,61 » Auszeichnung für 11000 Beiträge



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