Plötzlich blind, schlimmer wie von Geburt an?
Ich könnte mir niemals vorstellen, plötzlich nichts mehr sehen zu können. Es mag daran liegen, dass ich den Vergleich habe und dass ich mir eine Welt ohne Augen, die funktionieren, nicht mehr vorstellen könnte. Was aber, wenn man plötzlich vom einen auf den anderen Tag blind wird? Obwohl man die Welt kennt, wie sie aussieht. Das ist doch fast, wie halbtot zu sein?
Ist es schlimmer, von Geburt an blind zu sein oder plötzlich blind zu werden? Ich meine, wenn man von Geburt an blind ist, dann weiß man ja gar nicht, wie die Welt aussieht, oder was man verpasst. Man ist es so gewöhnt, so denke ich mir. Aber plötzlich blind, das stelle ich mir schlimm vor, was meint ihr?
Ich denke nicht, dass man das pauschalisieren kann und finde, dass das auch eine Frage des Charakters ist. Eine Kollegin von mir ist blind von Geburt an und sie hatte sehr lange Zeit daran zu knabbern, dass sie eben blind ist, auch wenn sie es nicht anders kennt. Ich habe manchmal den Eindruck, dass sie auch heute mit fast 30 Jahren immer noch damit hadert, dass sie eben blind ist, auch wenn diese Phasen mal stärker und mal schwächer sind.
Grund dafür ist der, dass sie einen sehr dynamischen und unabhängigen Charakter hat und es hasst, auf andere Menschen angewiesen zu sein. Das fängt dann aber schon beim Einkauf im Supermarkt an, dass sie ohne Hilfe gar nicht alle Sachen findet, die sie einkaufen möchte. Je nachdem was gerade im Angebot ist, wird ja auch ständig alles im Supermarkt umgeräumt.
Auch Pfandflaschen abzugeben wird für sie zum Problem, weil sie die Automaten nicht sieht. Zebrastreifen sind auch problematisch, da diese bei uns nicht barrierefrei sind und sie daher nicht weiß wo diese sich befinden. Einfach mal die Straße überqueren kann auch sehr gefährlich sein.
Sie kriegt zwar ein spezielles Mobilitätstraining, dass sie eben den Weg zur Arbeit finden kann problemlos, aber wenn es darum geht neue Orte zu finden, ist sie total hilflos und braucht entweder ein Taxi oder einen Blindenführer. Ich war schon so manches Mal Blindenführer für sie und habe sie begleitet und habe daher mitbekommen, wie sehr sie das belastet, abhängig zu sein.
Für meinen Vater war es schlimm, dass er im Alter blind geworden ist. Sein ganzes Leben war darauf ausgerichtet, dass er sehen konnte, Als Zeitungsreporter ist es nicht leicht, wenn man von einem auf den anderen Tag auf einmal alles dunkel sieht und das hat ihm dann auch den Lebensmut gekostet. Er hat sich damals völlig aufgegeben.
Ich persönlich finde es viel schlimmer plötzlich blind zu werden als wenn man von Geburt an blind ist. Ich kenne durch die Blindengruppe von meinem Vater damals einige, die von Geburt an blind waren und einige, die blind geworden sind. Die, die später erblindeten hatten mehr zu kämpfen und mussten ihr Leben ja völlig neu ordnen. Plötzlich blind ist schlimmer als von Geburt an blind zu sein,
Ich bin froh, nicht blind zu sein, weil ich sehr gern lese und am Computer Dinge erledige. Wenn das auf Einmal weg fällt, würde mir das sehr fehlen. Und bis man dann mühselig die Blindenschrift lesen gelernt hat, entsteht ja auch erst mal ein riesiges Zeitfenster, bis das Lesen wieder so flüssig wie gewohnt klappt. Ja, man kann Screenreader benutzen, aber das klingt meist furchtbar und für ein gutes Buch wäre das für mich nur ein notdürftiges Hilfsmittel.
Ich kenne mehrere Leute, die im höheren Alter relativ flott erblindet sind. Alle hatten damit sehr zu kämpfen. Je älter die Person war, desto mehr. Jahrzehnte lange Gewohnheiten lassen sich nicht einfach so ablegen. Der Freundeskreis reagiert zum Teil irritiert und kann damit nicht immer konstruktiv umgehen. Damit fängt das schon an. Dann ist man anfangs ständig auf Hilfe und Unterstützung angewiesen, muss erst langwierig in Kursen lernen, sich wieder selbst zurecht zu finden. Das kann sicher extrem viel Mut brauchen, da weiter leben zu wollen.
Von daher stelle ich mir es wesentlich leichter vor, wenn man von Geburt an oder zumindest von Kindheit an blind ist, weil man dann das eben nicht anders gewöhnt ist und nichts vermisst oder aber schneller umlernt, als als Senior. Aber letztlich verpasst man als Blinder doch so einiges, so dass ich froh bin, dass keiner in meiner Familie von Geburt an Blind sein muss.
trüffelsucher hat geschrieben:Von daher stelle ich mir es wesentlich leichter vor, wenn man von Geburt an oder zumindest von Kindheit an blind ist, weil man dann das eben nicht anders gewöhnt ist und nichts vermisst oder aber schneller umlernt, als als Senior.
Mag sein, dass man da theoretisch schneller lernt. Aber wie kommst du darauf, dass man da nichts vermisst? Meinst du nicht, dass man Sachen vermisst, wenn man ständig Sehende im Alltag um sich hat und dann nahezu tagtäglich damit konfrontiert wird, dass Sehende Menschen Dinge können, die man selbst niemals selbstständig und unabhängig tun könnte? Ich sehe das an meiner Kollegin. Sie vermisst definitiv die Sehkraft, auch wenn sie das gar nicht aus eigener Erfahrung kennt. Daher halte ich Pauschalisierungen hier für wenig sinnvoll.
@Täubchen: Hier geht es doch nicht um Verallgemeinerungen, hier geht es um Meinungen verschiedener Mitglieder. Eine Diskussion stellt sich ja erst, wenn es Menschen gibt, die verschiedene Meinungen haben, deshalb habe ich das Thema ja geschrieben.
Das was Diamante beschreibt, kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich bin aber selber froh, dass ich sehen kann, es ist für mich das größte Geschenk und ich finde wirklich, dass wir alle, die gesund sind und sehen können, dafür dankbar sein sollten. Wir schätzen unsere Gesundheit viel zu wenig. Erst, wenn wir damit konfrontiert werden, dass es eben Menschen gibt, denen es nicht so gut geht, wie uns, erkennen wir erst, was für ein Glück wir haben.
@Trüffelsucher: Ich kann deine Ansicht auch gut nachvollziehen. Es wird wie bei den Süßigkeiten sein. Ein Kleinkind, welches keine Süßigkeiten kennt, vermisst sie auch nicht. Wenn es dann aber um alltägliche Dinge geht, wo man eben mitbekommt, wie einfach sehende Menschen sich tun, da stimme ich Täubchen wiederum zu, wird man sicher auch darüber nachdenken, wie es wäre, sehen zu können.
Ich kann mit solchen Gedankenspielchen nicht viel anfangen. Was heißt schon "schlimmer"? Genauso gut könnte man fragen, welche Form der Querschnittslähmung "schlimmer" sei oder ob man lieber nichts hören oder nichts sehen möchte. Für mich sind all diese Einschränkungen gleichermaßen "schlimm", nur eben auf unterschiedliche Arten und Weisen.
Und falls man Pech hat und durch einen Unfall oder eine Krankheit blind wird (oder taub, gelähmt, was auch immer) möchte man bestimmt auch nicht hören, dass das eigene Schicksal "schlimmer" sei als das eines Anderen, der schon von Geburt oder Kindheit an lernen musste, mit seinen Einschränkungen umzugehen. Manche Dinge kann man einfach nicht in Relation zueinander setzen oder eine Skala der Tragik anlegen, weil man dann schnell bei "So ein Glück, dass du noch nie sehen/laufen konntest, da weißt du wenigstens nicht, was du versäumst!" anlangt, und das will erst recht keiner hören.
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