Offen zugeben, dass man Hartz4 bezieht ein Tabu?

vom 11.01.2017, 13:34 Uhr

Heute morgen war ich mit Arbeitskollegen einen kurzen Kaffee trinken, weil ich ja aktuell eher "Teilzeit" arbeite und auf "Abruf", um mich der gesundheitlichen Genesung zu widmen. Da haben wir natürlich über berufliche Themen viel gesprochen, über Problemfälle in unseren Arbeitsgebieten usw.

Da sagte mir eine Arbeitskollegin, dass ihr Freund jeden, der ihn fragt, was er beruflich tun würde sagt, dass er H4 kriegt. Erst einmal musste ich grinsen und dachte mir nur, was möchte sie mir jetzt damit sagen. Er ist halt arbeitslos und so habe ich das dann auch verstanden.

Ihr Problem war es aber, dass er das überhaupt gesagt hat und nicht seinen alten Beruf, den er nicht ausübt, vorschiebt. Eben um nicht sagen zu müssen, dass er H4 kriegt. Sie hätte also eine Lüge bevorzugt, weil sie der Meinung ist, dass H4 peinlich sei. Also kam sie auch mit Vorurteilen wie Faulheit usw, aber sagt gleichwohl bei ihrem Mann trifft das nicht zu, er bewirbt sich immer!

Andere dazustoßende Arbeitskollegen fanden ihre Reaktion weniger genial und meinten, dass es doch nicht schlimm ist, wenn man arbeitslos sei, weil das jeden treffen kann. Die eine erzählte dann von ihrem Mann, der im Opel-Werk gearbeitet hat und eine andere sagte, dass ihr Mann früher für Nokia tätig war, ehe all das geschlossen wurde. Als ich ihr sagte, dass auch ich schon H4 bekam, war sie total entsetzt.

Das ganze irritiert mich auch jetzt nach einigen Stunden etwas, weil ich diese Tabuisierung nicht verstehe. Wenn jemand Euch fragen würde, was ihr beruflich macht, würdet ihr eine Arbeitslosigkeit verschweigen und vor allem auch dann, wenn ihr H4 bekommen würdet? Ist das wirklich ein Tabuthema, dass man darüber nicht einmal offen reden sollte, sondern lieber alte und bekannte Berufe als Jobgrundlage der Lüge nutzen sollte? Was denkt Ihr, ist H4 Bezug von Betroffenen ein Tabuthema?

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» Kätzchen14 » Beiträge: 6121 » Talkpoints: 1,40 » Auszeichnung für 6000 Beiträge



Nein, ich finde das ist heute leider kein Tabuthema mehr. Natürlich bin ich in einer Zeit aufgewachsen, wo es in Deutschland anders war. In meiner Kindheit war ein Arbeitsloser in der Regel noch ein "faules Schwein". So wie der Arbeitsmarkt dagegen heute herunter gewirtschaftet wurde, ist Hartz 4 doch schon eher der Normalfall.

Das kann wirklich jeden treffen und sogar Menschen, die Vollzeit arbeiten und nicht genug bezahlt bekommen, dass sie eben aufstocken müssen. Auch kann man durch Krankheit ganz schnell dort landen. Oder man hat halt in Bochum gearbeitet.

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» Bellikowski » Beiträge: 7700 » Talkpoints: 16,89 » Auszeichnung für 7000 Beiträge


Ich denke schon, dass es in manchen Teilen der Gesellschaft nach wie vor ein Tabu ist. Es gibt schon Kreise, in denen man nicht angesehen ist wenn man eine Zeitlang Arbeitslosengeld 1 bezieht und keinen Job hat, hat man dann Hartz 4 dann ist man direkt unten durch und wird als Abschaum gesehen, der nicht arbeiten will und über einen Kamm mit anderen geschert. Vieles auch nur, weil man sich damit nicht auskennt und auch nicht weiß, wie schnell man in dieses Thema selbst rutschen kann.

Wer davon aber mehr in seinem Umfeld hat, mehr mitbekommt und sich damit auch auskennt, der sieht das ganze etwas anders als jemand für den das eine ganz andere Welt zu sein scheint. Für die Betroffenen ist es auch nicht schön zugeben zu müssen, dass sie dieses beziehen und zumindest hier rühmt sich damit keiner, es gibt aber auch nicht komplette Wohnblöcke voll mit solchen Bewohnern wie es in anderen Bundesländern der Fall ist. Schön ist es jedenfalls nicht und auch nichts, was ich selbst erstrebenswert finde.

Wenn du mich fragen würdest was ich beruflich mache, dann würde ich auch meinen derzeitigen Status zum besten geben und dieser ist in Vollzeitbeschäftigung mit einer Selbstständigkeit nebenbei. Arbeitslos war ich auch schon, Hartz 4 habe ich nie bekommen und bevor es soweit gekommen ist, habe ich lieber jede andere Arbeit angenommen die auch Branchenfremd war, einfach weil ich unter dem Strich damit mehr hatte und auch einen anderen gesellschaftlichen Stand.

Denn einmal Hartz 4 bekommt man direkt einen Stempel aufgedrückt, den man so einfach nicht wieder weg bekommt wenn er einmal im Lebenslauf steht. Das galt es bei mir immer zu vermeiden, was mir auch geglückt ist. Aber dieses Glück hat einfach nicht jeder, gerade wenn man in das Hartz 4 aus Krankheit rutscht, nicht arbeiten kann, wie will man dann etwas anderes machen? Man kann zwar wollen, aber wenn es nicht geht, geht es nicht.

Gleiches ist aber auch, wenn man neben der Arbeit finanzielle Unterstützung bezieht. Auch dort bekommt man direkt den Stempel aufgedrückt, dass man zu wenig arbeitet, mehr arbeiten soll damit man sein Leben alleine finanziert bekommt. Auch das ist nicht immer machbar, auch wenn es durchaus auf einige Zutreffend ist die genug Zeit für einen weiteren Job haben, gesund sind und keine anderen wichtigen Verpflichtungen haben die sie davon abhalten könnten und es einfach nur aus Bequemlichkeit machen. Der Stempel wird auch erst einmal pauschal jedem aufgedrückt.

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» Sorae » Beiträge: 19435 » Talkpoints: 1,29 » Auszeichnung für 19000 Beiträge



Es kommt doch darauf an, wo man lebt und mit wem gerade zu tun hat. Hier bei mir beträgt die Arbeitslosenquote 15%, die meisten der Betroffenen sind Langzeitarbeitslose. Da ist das Thema relativ normal, weil es für ganz viele einfach keinen Job gibt. Wenn mal jemand etwas bekommt, dann ist es befristet, wer eine Verlängerung bekommt, ist ein König.

Das Klima verändert sich schon wenige Stadtteile weiter, weil dort viele Menschen sehen, wie sich die Arbeitslosigkeit ausbreitet und auch in ihren Stadtteil kriecht. Wer noch unter prekären Bedingungen Arbeit hat und die Arbeitslosigkeit kommen sieht, der hat Angst und grenzt sich ab. Da wird schnell nach unten getreten, um die eigene Situation besser ertragen zu können.

Und in Kreisen verkehrt, wo Arbeitslosigkeit praktisch unbekannt ist, der hat es natürlich deutlich schwerer. Denn dort gilt noch der Grundsatz, wer arbeiten möchte, der findet Arbeit. Aber im gering bis gar nicht qualifizierten Bereich ist das hier extrem schwer. Auf eine Stelle als Küchenhilfe bewerben sich hier zwischen 1.200 und 1.500 Menschen.

» cooper75 » Beiträge: 13376 » Talkpoints: 509,41 » Auszeichnung für 13000 Beiträge



Das Problem liegt sicherlich darin begründet, dass irgendwie dafür gesorgt wurde, dass Hartz 4 Empfänger als eine besondere Kaste betrachtet werden. Da steckt meiner Meinung nach Methode hinter. Der Arbeitsmarkt hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte gewaltig verändert. Früher gab es Arbeitslosengeld und danach Arbeitslosenhilfe. Es gab eine Menge Arbeitslose und dann kam diese Agenda 2000, welche alles neu strukturiert hatte.

Man wurde diese offiziellen hohen Arbeitslosenzahlen dadurch los, dass man viele Leute im Niedriglohnsektor beschäftigte und um diese darin zu bestärken, dass sie doch eigentlich gar nicht so schlimm dran sind, sorgte man dafür, dass unter den Niedriglohnempfängern noch die Hartz 4 Empfänger stehen. Unter den Blinden ist eben der Einäugige König.

Jeder kann arbeitslos werden, auch wenn er hochqualifiziert ist. Aber wenn er ´nach einem Jahr keinen Job findet, dann ist er Hartz 4 Empfänger. Das ist ein Skandal.

» Freidenker28 » Beiträge: 749 » Talkpoints: 1,02 » Auszeichnung für 500 Beiträge


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