Nicht der Mensch sein, der man hätte werden sollen?
Ich lese zur Zeit einen Roman, der an sich schon interessant geschrieben ist und von der Thematik auch spannend gestaltet ist. Allerdings stolperte ich vor kurzem über einen Satz, der mich stutzig machte. In dem Buch ging es um eine Frau in den mittleren Jahren, die ganz offensichtlich unzufrieden mit ihrem Leben war und eine Veränderung brauchte und die aus diesem Grund der Ansicht war, dass sie nicht der Mensch geworden ist, der sie hätte werden sollen und dass sie das Gefühl nicht losgeworden ist, in ihrem Leben eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, sodass es eben zwangsläufig zu dieser "falschen" Entwicklung kommen musste.
Ich hatte ehrlich gesagt noch nie das Gefühl, dass ich irgendwann mal eine falsche Entscheidung getroffen habe und mich charakterlich in eine Richtung entwickle, die ich nicht gut finde und eher ablehne. Das liegt aber vielleicht auch am Charakter und an der Einstellung. Ich glaube nicht, dass es ein "Ideal" gibt, das wir laut Schicksal erreichen müssen und wenn man von diesem Ziel im Endeffekt abweicht, dann hat man versagt. Das finde ich albern. Was haltet ihr von dieser Aussage? Kann man tatsächlich nicht der Mensch sein, der man hätte werden sollen? Wie versteht ihr diese Aussage und findet ihr das logisch und nachvollziehbar?
Die Aussage finde ich ehrlich gesagt auch irgendwie etwas "schnulzig". Ich denke, dass kein normaler Mensch so einen Satz äußern würde. Allerdings kann ich schon verstehen, dass man sich über Entscheidungen aus der Vergangenheit vielleicht ärgert oder denkt, was eben wohl passiert wäre, wenn man sich hier und da anders entschieden hätte.
Ich habe mich das auch teilweise schon gefragt und denke, dass mein Leben dann auch anders verlaufen wäre. Allerdings denke ich nicht unbedingt, dass es auch den Menschen mit seinen Charakterzügen und Eigenschaften an sich zwingend verändert. Und woher soll man denn auch wissen, wie der Mensch aussieht, der man hätte werden sollen? Es steht ja nirgendwo fest geschrieben, dass man diese und jene Eigenschaften haben sollte und sich nach Schema XY entwickeln sollte.
Jeder Mensch trifft in seinem Leben falsche Entscheidungen. Nur ob diese so große Auswirkungen haben, dass sie quasi die ganze Zukunft beeinflussen ist unterschiedlich. Ich habe damals auch den falschen Beruf erlernt. Nur wer konnte denn 1998, als der Ausbildungsvertrag unterschrieben wurde, wissen, dass man 18 Monate später den falschen Weg gegangen ist? Diese Entscheidung war zwar falsch und sie hat mich auch nachhaltig beeinflusst, aber mit Sicherheit mein Leben bis heute negativ beeinflusst.
Klar, ich habe mich dann anders entwickelt, als ursprünglich geplant. Aber ich hatte auch die große Freiheit, dass ich mich nach dieser Ausbildung erst mal ausprobieren konnte, in welche Richtung es dann gehen soll. Einige Versuche sind recht schnell gescheitert, andere haben mich wieder so geprägt, dass mir die Erfahrungen heute noch von Nutzen sind.
Wenn man aber der Meinung ist, dass man vor X Jahren eine Entscheidung getroffen hat, die das ganze weitere Leben negativ beeinflusst hat, dann kann man doch was ändern. Warum macht man dann so weiter? Aus Gewohnheit, aus Faulheit oder vielleicht auch aus Angst?
Du hast das nun in einem Buch gelesen. Aber diese Situation erleben doch viele Menschen auch real. Schau dir Frauen an, die von ihrem Mann geschlagen werden, sich aber trotzdem nicht trennen. Auch sie haben mal eine Entscheidung getroffen, die schlecht war und das weitere Leben negativ beeinflusst hat. Und somit ist man auch nicht der Mensch, der man hätte sein können oder sollen?
Ich verstehe nicht, auf wen sich das bezieht. Geht es darum, dass die Eltern bestimmte Erwartungen hatten, die sie dann nicht erfüllt hat, weil sie einen anderen Beruf gewählt hat oder den "falschen" Partner geheiratet hat? Oder geht es allgemein um die Erwartungen der Gesellschaft, die von einer Frau immer noch erwartet, dass sie eine weibliche Rolle ausfüllt?
Falsche Entscheidungen im Leben führen ja nicht zwangsläufig dazu, dass man ein anderer Mensch geworden wäre wenn man die vermeintlich richtige Entscheidung getroffen hätte. Und was noch viel wichtiger ist - es ist nicht garantiert, dass man dann auch zufriedener wäre. Ich denke jedenfalls, dass ich aus meinen falschen Entscheidungen viel mehr gelernt habe als aus meinen richtigen Entscheidungen und mich als Mensch gerade durch die Fehler und den Lerneffekt entwickeln konnte.
Wenn man das gar nicht kennt, dann kann es sein, weil man viel Glück im Leben hatte und alles halbwegs rund lief oder man ist noch zu jung, um einige Entwicklungen abschätzen zu können. Solche Gedanken kommen in der Regel erst im mittleren Alter. Mir fällt bei dem Thema spontan eine Frau ein, die aus einem südlichen Land stammt und von ihren Eltern ganz früh aus der Schule genommen wurde, weil Mädchen heiraten und keinen Abschluss brauchen. Wenn von externer Seite solche gravierenden Entscheidungen in einem Alter und Umfeld getroffen werden, wo Gegenwehr keine Option ist, dann befindet man sich auf einer Straße, die man selbst nicht wählen konnte.
Bei dem Beispiel habe ich mich gefragt, welches Potential eigentlich in der Frau gesteckt haben könnte und was aus ihren Kindern hätte werden können, wenn dieser Weg nicht eingeschlagen worden wäre, denn die Kinder sind, vorsichtig formuliert, auch relativ bildungsfern geblieben, wobei ich das Gefühl habe, dass dort eigentlich Potential in der Familie geschlummert hätte. Das fällt mir als Beispiel zum Thema Beruf und Bildung ein.
Und so einfach wie es hier teilweise klingt, alles eigenständig ändern zu können, ist es auch wieder nicht, vor allem, wenn man zu anderen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen sozialisiert wurde. Oder was ist mit Menschen, deren Lebensweg durch äußere, nicht zu beeinflussende Entwicklungen oder Einflüsse völlig vom einmal geplanten Weg abgekommen ist? Wenn das in jungen Jahren passiert, kann man später auch das Gefühl bekommen, nicht der Mensch geworden zu sein, der man hätte werden sollen, wollen oder können.
Auch an sehr schwere Schicksalsschläge wie ein längerdauerndes Trauma, eine schwere, lebensbehindernde Krankheit, Missbrauch, Vergewaltigung oder sonstiges Unglück muss ich dabei denken. Das sind alles Dinge, die Menschen in jungen Jahren aus der Bahn werfen können und andere Entwicklungen anstoßen, als die, die man sich vielleicht einmal erträumt oder erhofft hatte. Im kleineren Rahmen passiert das wohl bei jedem Menschen, aber in einigen Fällen sind die Veränderungen so gravierend und ungewollt, dass man sich hinterher selbst fremd ist und wieder neu positionieren muss.
Ob es strikt "logisch" ist, sich zumindest hin und wieder dem "Was wäre, wenn..." hinzugeben, kann ich auch nicht sagen, aber ich kenne auch mit zunehmendem Alter die Frage, ob ich mein Potenzial wirklich so ausgeschöpft habe, um ein Leben zu haben, das für mich in Ordnung ist, oder ob ich mich doch zu sehr von Ängsten, den Umständen oder dem Gruppenzwang habe leiten lassen. Ich denke, dass solche Gedanken bei halbwegs der Selbstreflexion fähigen Menschen relativ weit verbreitet sind, spätestens sobald sich die Jugend verabschiedet.
Es wird zwar immer gerne behauptet, dass es "nie zu spät" für lebensverändernde Entscheidungen sei, aber das stimmt objektiv gesehen nicht. Und Tatsache ist auch, dass man in jüngeren Jahren zwar noch die Zeit und Energie gehabt hätte, aber dafür nicht den Mut oder die Weitsicht, oder schlicht das Geld, um die Weichen für die nächsten Jahrzehnte entsprechend zu stellen. Und dazu kommen noch die schon erwähnten äußeren Umstände.
Jemand aus einem armen oder "bildungsfernen" Elternhaus hat von Anfang an schlechtere Chancen und muss sich mit mehr Widerständen herumschlagen als viele andere. Und Schicksalsschläge aller Art können ebenso ein Leben aus der Bahn werfen. Von daher verstehe ich schon, dass man früher oder später anfängt, darüber nachzudenken, wie man in die aktuellen Lebensumstände geraten ist und sich vielleicht eingestehen muss, dass man zum Beispiel einen bestimmten Beruf nur deswegen ausübt, weil es der Wunsch der Eltern war, oder Kinder gekriegt hat, weil "es sich eben so gehört". Und dann stellt sich schon die Frage: Was will ich selber eigentlich und wie viel Zeit bleibt mir noch, um mein eigenes Leben zu führen und nicht das der anderen?
Ich glaube gerade bei den Eltern ist es immer so, dass sie Vorstellungen von dem haben, wie die Kinder werden sollen. Dem entspreche ich bei meinen Eltern überhaupt nicht. Die verstehen weder warum ich zu dem Zeitpunkt geheiratet, Kinder bekommen habe oder in welche berufliche Richtung ich dann gegangen bin. Sie würden mich wahrscheinlich gerne in irgendeinem anderen Bereich sehen oder was auch immer. Sie haben eigentlich immer etwas zu meckern.
Letztendlich ist aber mein Leben und ich habe sicherlich die ein oder andere Entscheidung anders, eher und emotionaler getroffen, aber ich bin echt zufrieden damit wie es läuft und bin immer noch dabei jeden Tag etwas zu tun, damit ich selber das Gefühl habe ein guter Mensch zu sein. Das fängt ja im Kleinen an und endet in großen weltbewegenden Schritten.
Ich glaube, dass der Großteil des Charakters schon in der Kindheit angelegt ist und es dann nur eine Frage der Lebensentwicklung ist, wie exakt dieser angelegte Charakter zum Ausdruck kommt. Aber ich denke nicht, dass man durch einzelne Lebensereignisse grundsätzlich "verkorkst" werden kann. Es wurde etwas das Beispiel einer Frau genannt, die vom Ehemann unterdrückt und geschlagen wird. Aber nicht jede Frau mit einem dominanten oder aggressiven Mann lässt sich ja unterdrücken, das sind bestimmte Persönlichkeitstypen, die sich dann unterdrücken lassen und sich nicht trennen oder nicht aufbegehren und diese Persönlichkeitstypen haben dieses Muster des übermäßigen Anpassens auch in anderen Situationen.
Ich bin beispielsweise eher jemand, der sich dann rächt, Gleiches mit Gleichem bekämpft oder die Situation verlässt. Als ich mal in einer Beziehung war, wo der andre mit Gegenständen geworfen hat, habe ich ihn genauso mit Sachen beworfen und dieses Tendenz, das nicht zu ertragen, sondern zurückzuschlagen, ist Teil meines bereits in der Kindheit vorhandenen Charakters. Daher würde mir das nie passieren, dass mich ein Mann unterdrückt, der würde dann von mir eins abbekommen oder ich wäre eben schnell weg und würde das nicht lange mitmachen.
Oder wenn wir an das Berufliche denken - es gibt Menschen, die probieren viel aus und es gibt Menschen, die tendieren dazu, einen einmal eingeschlagenen Weg beizubehalten, auch wenn es ihnen nicht mehr so gefällt. Etwas allgemeiner gesagt, gibt es Menschen, die offener für Neues sind und schneller wechseln und es gibt Personen mit Angst vor Veränderung. Dass man mal beruflich wo landet, wo es einem nicht gefällt, kann jedem passieren. Aber der eine Typ Mensch verändert sich dann wieder und probiert Neues und der andere Typ Mensch bleibt in der Situation und versucht eher sich abzufinden oder sich anzupassen.
Welchen Einfluss ein Lebensereignis auf dich hat, hängt ja von deinem Charakter ab, man kann immer so oder so auf eine Situation reagieren und je nachdem, wie man von seiner Persönlichkeit her geformt ist, wird man in ähnlichen Situationen auch entsprechend reagieren. Damit ist es nicht das äußere Ereignis oder eine einzelne Entscheidung, sondern eher die Frage, wie die Person dann darauf reagiert.
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