Muss man für Kreativität leiden?
Kennt ihr diese Behauptungen, dass man leiden muss, um kreativ zu sein? Also, dass man erst kreativ wird, wenn man in einer Notsituation ist. Wie Geldsorgen oder Liebeskummer. Besonders bei Dichtern, Musikern und anderen Künstlern wird dies behauptet. Ich denke schon, dass negative Emotionen zur Kunst gehören, aber ich glaube nicht, dass man am kreativsten ist, wenn man gerade leidet.
Bei mir ist es zum Beispiel so, dass ich am kreativsten bin, wenn es mir gut geht und ich nicht so viele Sorgen habe. Was meint ihr, muss ein Künstler leiden, um wirklich tolle Arbeit zu leisten? Wie ist es bei euch, seid ihr kreativ, wenn ihr gerade leidet oder wenn es euch gut geht?
Ich bin gar nicht kreativ, wenn ich leide. Wenn ich zum Beispiel früher mal Geldsorgen hatte oder Probleme mit Mann und/oder Kindern, konnte ich gar nichts schaffen, weil sich die Gedanken immer nur darum kreisten. Ich bin am kreativsten, wenn ich Muße habe und zusätzlich noch von etwas Äußerem motiviert werde, wie etwa bei einem Museumsbesuch oder einem Gespräch mit Menschen, die inspirierend sind.
Leider kann ich Kreativität bei mir nicht bewusst erzeugen. Sie kommt und geht leider manchmal wieder. Ich habe festgestellt, dass ich aus Urlauben immer mit kreativen Ideen zurückkomme. Also hat bei mir Kreativität mit Leiden nichts zu tun.
Es gibt viele gute Künstler, die nicht leidend sind. Vielleicht fallen nur diejenigen besonders auf, die am Leben verzweifeln. Künstler können das Leiden, was auch andere Menschen haben, besser darstellen und daher meint man vielleicht, dass sie mehr leiden. Aber in Wirklichkeit dringt nur das nach außen, was andere im Inneren verbergen.
Den meisten Künstlern macht ihre Arbeit Spaß und es erzeugt Glücksgefühle, den Flow, behaupte ich mal. Ich habe mal einen Film über Anselm Kiefer gesehen, der in Südfrankreich mit riesigen Steinklötzen "spielt", wie Kinder mit ihren Bauklötzen. Es sah dabei nicht gerade leidend aus. Ich habe noch keinem Künstler beim Malen zugesehen, der dabei gelitten hat. Auch Schauspieler und Schriftsteller sind oft Frohnaturen.
Ich bin nicht der Meinung, dass man für Kreativität leiden muss. Es gibt zwar viele Beispiele, in denen durch Leid und Notsituationen Kreatives entstand, aber man kann das nicht pauschalisieren.
Bei mir ist es so, dass ich für Kreativität Zeit und Ruhe brauche. Ich stelle unter anderem Lernspiele und Lernsoftware her. Da brauche ich immer wieder neue Ideen. Diese kommen bei mir meistens, wenn ich Ruhe habe, zum Beispiel wenn ich Fahrrad fahre oder spazieren gehe.
Dann brauche ich noch viel Zeit, um die Ideen reifen zu lassen und zu verbessern. Ich arbeite gerne Details heraus. Deshalb sind für mich Notsituationen oder Zeitdruck nicht besonders produktiv.
Kreativität heißt ja nicht nur, dass man schöne Bilder malt oder Skulpturen meißelt. Auch im Alltag ist oft genug Kreativität gefragt, und da finde ich es durchaus nachvollziehbar, dass eine Notsituation den Erfindungsreichtum befeuert.
Wenn dir die Kohle ausgeht, ist es dann nicht "kreativ", dir neue Möglichkeiten auszudenken, um dein Einkommen zu erhöhen oder Ausgaben zu verringern? Das kann sich durch kreative Kochrezepte mit preiswerten Grundnahrungsmitteln äußern oder beispielsweise einen eigenen Onlineshop, Marktstand oder "kreativen" Flyern, mit denen man sich als Hundesitter anpreist.
Und auch wenn man mit Kunst im weitesten Sinne sein Geld verdient, ist es eher unklug, zuzugeben, dass man sich den Kram einfach so aus dem Ärmel schüttelt und beispielsweise alle sechs Wochen einen Roman fertig hat. Dem Publikum gefällt die Vorstellung eines langwierigen, mühsamen Leidens- und Schaffensprozess mit viel Kaffee und Selbstzweifeln besser, als wenn sich jemand hinstellt und zugibt, einfach irgendwas probiert zu haben.
Kommt darauf an um welche Art von Kreativität es sich handelt, oder? Ich denke schon, dass gewisse Erfindungen aus einer Not oder einem Mangel heraus entstanden sind, weil ohne dieses "Leiden" überhaupt keine Notwendigkeit bestanden hätte kreativ zu werden.
Nehmen wir zum Beispiel mal das Kochen. Wann ist die Chance größer, dass ich etwas völlig Neues koche? Wenn ich am Freitag ordentlich eingekauft habe fürs Wochenende und nun mit vollem Kühlschrank und genügend Zeit da stehe? Oder wenn sich in meinem Kühlschrank nur noch willkürlich zusammengewürfelte Reste finden und die Supermärkte geschlossen haben?
Es gibt auch bei mir im Haus einige Sachen, die wegen ihrer Kreativität bewundert werden aber ursprünglich einfach ein Weg waren mit einem Mangel umzugehen. Das Schränkchen unter meinem Waschbecken in der Gästetoilette ist zum Beispiel ein ehemaliger Schminktisch und der Spiegel über dem Waschbecken war da ursprünglich dran. Warum? Weil ein Spiegelteil kaputt war und die Platte des Tisches extreme Macken hatte, ich das Möbelstück aber so gerne retten wollte. Hätte ich das in Top Zustand geschenkt bekommen hätte ich es einfach so wie es ist aufgestellt.
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