Macht ihr euch um vermisste Personen Gedanken?
In meiner Geburtsstadt ist vor kurzem ein Mann verschwunden. Ich habe ihn dort ein paar Mal gesehen, weil er einfach auffällig war. Er benutzte einen Blindenstock und war jeden Tag unterwegs. Man hat ihn also immer irgendwie gesehen, wenn man in der Stadt war.
Unterhalten habe ich mich nie mit ihm und dennoch bin ich nun doch einigermaßen betroffen, weil ich mir Gedanken dazu mache, was passiert sein könnte. Es ist ja auch nicht so, dass er da mal eben irgendwo hin gegangen wäre und in der Nähe gibt es auch bergige Stellen, bei denen man leicht mal abstürzen kann.
Habt ihr euch auch schon mal Gedanken um einen Vermissten gemacht, den ihr aber eigentlich nicht richtig gekannt habt? Wie gesagt ich kenne ihn einfach nur vom Sehen, fand es aber immer sehr gut, wie er alles im Griff zu scheinen hat.
Letzten Sommer wurde im Nachbarort eine Seniorin, die an schwerer Demenz litt, vermisst. Sie war nachts aus dem Haus ihrer Tochter entwischt, die sie gepflegt hat. Wie sie die verschlossene Tür öffnen konnte, war nicht bekannt. Weil sie gebürtig hier aus dem Ort kam, hat man sie auch hier vermutet.
Überall hingen Zettel mit ihrem Foto. Es gab kaum einen Weg, wo keiner hing. Die Polizei fuhr hier gefühlt noch öfter herum, vom Ordnungsamt war auch nicht nur die eine Frau unterwegs, sondern es schienen alle auf der Straße zu sein. Und sie guckten sich gut an, wer auf den Straßen unterwegs war. Sie schienen also danach zu suchen, ob die Frau im Ort unterwegs war.
Es war für uns alle hier im Ort also jeden Tag ersichtlich, dass die Frau verschwunden war und gesucht wurde. Es waren die wenigen ganz heißen Tage im Hochsommer, als sie verschwand. Und da haben wir uns dann doch irgendwie Gedanken gemacht und auch Ausschau gehalten. Durch unseren Hund gehen wir ja auch nicht nur auf den normalen Wegen entlang, sondern auch etwas abseits zwischen den Feldern.
Ich hab mir Gedanken gemacht, weil ich auch an Freunde und Bekannte gedacht habe, die im gleichen Alter sind, wenn auch zum Glück nicht oder nicht so stark dement. Und ich habe an Personen gedacht, die demente Personen pflegen, welche Sorgen und vielleicht Vorwürfe die sich machen müssen. Ich habe selbst kurzzeitig meinen Vater gepflegt und kann mir vorstellen, was in so einem Fall einem durch den Kopf geht.
Die Frau wurde ca. zwei Monate später gefunden. Sie war überhaupt nicht auf Wegen oder Straßen geblieben, sondern wurde in einem Wald gefunden, wo sie wohl verdurstet ist. Durch die Hitze und ihre Demenz hat sie keine Chance gehabt. Da ging mir durch den Kopf, dass es wenigstens kein Verbrechen war und die Familie dann zumindest Gewissheit über den Verbleib hatte, nachdem es zwischenzeitlich das Gerücht gab, dass jemand sie als Anhalter mit nach Duisburg genommen hätte.
Ich habe Gott sei Dank persönlich noch nicht mitbekommen, dass jemand, den ich kenne, wenn auch nur vom Sehen, vermisst wird. Aber wenn, dann würde ich die Augen offen halten und mir Gedanken machen. Ich lese fast täglich den Polizeibericht, wo auch ab und zu vermisste Personen gesucht werden.
Ich schaue mir die Bilder an, damit ich sie auf der Straße in unserer großen Stadt erkenne. Oft sind es ja hilfsbedürftige Menschen, wie etwa alte Leute mit Demenz. Die würden dann hilflos herumsitzen und keiner würde merken, dass sie vielleicht Hilfe brauchen. Vielleicht würden sie sogar für Penner gehalten.
Manchmal werden auch Leute in den Bergen vermisst. Ich mache mir dann auch so meine Gedanken und bin dann ganz erleichtert, wenn sie lebendig wieder gefunden werden. Besonders nahe gehen mir Geschichten von verschwundenen Kindern. Oft erfahren ihre Eltern ja nie, was mit ihnen passiert ist. Ich möchte mir das gar nicht vorstellen.
Ich bin da mittlerweile ziemlich abgestumpft. Wenn ich im Radio mal wieder höre, dass jemand gesucht wird, oft älter und/oder von Demenz betroffen, denke ich mir schon: Hoffentlich taucht die Person unbeschadet wieder auf! Aber wirkliche emotionale Betroffenheit kann ich nicht aufbringen.
Schließlich vergeht kein Tag, an dem in den Medien von allen möglichen Schicksalen berichtet wird. Das geht vom Bergunfall (in der Wandersaison purzeln die Rentner gefühlt im Dutzend talwärts) über verschwundene Minderjährige, misshandelte Kinder bis hin zu der ein oder anderen Schlägerei, bei der jemand ungeschickt auf den Hinterkopf gefallen ist.
Wo ziehe ich da die Grenze? Wenn der im ganzen Dorf bekannte, schon etwas tüddelige Opa Eberhard abgängig ist, bin ich "betroffen", wenn eine Teenagerin in der nächsten Stadt gesucht wird, denke ich mir kaltschnäuzig: "Die nimmt bestimmt Drogen!" Ich finde nicht, dass "sich Gedanken machen" mich automatisch zu einem besseren Menschen macht, wie viele zu glauben scheinen. Bei genauerem Hinsehen merkt man nämlich oft genug, dass gerade die Leute, denen das Schicksal Fremder immer ach so nahe geht, sich in erster Linie als besonders mitfühlend inszenieren wollen. Und das finde ich heuchlerisch und verlogen.
Vor ein paar Monaten hat mir am Bahnhof ein junger Mann einen Zettel in die Hand gedrückt. Seine Schwester wird vermisst und wurde an diesem Bahnhof zum letzten Mal gesehen, wo sie wahrscheinlich umgestiegen ist. Natürlich habe ich mir da ein paar Gedanken gemacht, das lässt sich ja schlecht vermeiden wenn man unmittelbar mit einem verzweifelten Familienangehörigen konfrontiert ist.
Wobei ich mir aber tatsächlich eher Gedanken um ihn gemacht habe. Was sagt man in so einer Situation? Wird sicher alles wieder gut? Ich meine, die Tatsache, dass er am Bahnhof steht und Flugblätter verteilt deutet halt eher auf das Gegenteil hin. Aber man kann ja auch schlecht so etwas wie "wenn die Behörden bisher keine Spur gefunden haben wirst du hier auch nichts ausrichten können" sagen, denn natürlich klammern sich die Angehörigen an jeden Strohhalm.
Aber von diesem Fall mal abgesehen mache ich mir ehrlich gesagt keine weiteren Gedanken wenn eine fremde Person vermisst wird. Gefühlt passiert das wirklich jede Woche. Teenager, die aus einem Heim abhauen, Ältere Personen, Menschen aus einer Behinderteneinrichtung, Patienten der Psychiatrie und immer wieder mal auch jemand, den man nicht als typischen Kandidaten für so eine Aktion sehen würde.
Wenn ich mir da um jeden Gedanken machen würden hätte ich verdammt viel zu tun. Ich muss aber sagen, dass ich es eh nie so richtig nachvollziehen kann warum sich Menschen für das "Schicksal" von völlig Fremden interessieren. Wenn wieder mal irgendein Hauseingang mit Kuscheltieren und Kerzen zugemüllt wird weil ein Kind umgebracht wurde macht mich das sogar eher wütend. Wenn sich die Leute so gekümmert hätten als das Kind noch gelebt hat müsste heute wahrscheinlich keiner der Kuscheltiermüll vor dem Eingang wegräumen.
Generell gehöre ich auch eher zu den Personen, die auf solche Meldungen abgestumpft reagieren. Was nicht bedeuten soll, dass ich mir nicht wünschen würde, dass alle heil wieder nach Hause kommen, aber bei uns werden fast täglich Nachrichten aufgeführt, wo Kinder verschwunden sind, im Altersheim jemand verschollen ist und gehandicapte Menschen irgendwie den Weg nicht nach Hause gefunden haben.
Natürlich möchte ich, dass jeder von ihnen wieder nach Hause kommt und das ihnen nichts passiert. Doch mehr kann ich tatsächlich auch nicht für diese Menschen tun. Einen Hund haben wir mal durch das Teilen auf Facebook und weil dieser bei mir in der Nachbarschaft dann lief gefunden und konnten helfen, aber mehr war bisher nicht drin.
Ich stumpfe also schon in gewisser Weise ab, was die Nachrichten angehen, weil es einfach auch zu viele sind. Wenn ich jetzt jedem mein Mitleid dazu geben würde und traurig in Gedanken verfallen würde, dann wäre ich tagein und tagaus damit beschäftigt. So etwas kann auch nicht im Ansatz gesund sein, sodass mich das nicht direkt berührt.
Ich denke es sollte nachvollziehbar sein, wenn wir alle denken, hoffentlich kommt die Person wieder gesund nach Hause, hoffentlich ist dem Kind nichts passiert usw. Doch mehr kann man auch für Fremde einfach nicht erwarten.
Ich arbeite in einem Beruf in dem solche Vermisstenmeldungen immer wieder auftauchen, speziell natürlich von hilfsbedürftigen Senioren oder eben Kindern. Ich bekomme dann auch oft durch Vernehmungen nähere Informationen von Angehörigen und kurzzeitig beschäftigt mich das dann natürlich schon. Gerade wenn man selbst Mutter ist dann fühlt man schon mit den Betroffenen mit, wenn das Kind verschwindet und man das Gefühl hat die Polizei unternimmt alles menschenmögliche und trotzdem kommt es zu keinem Erfolg.
Zu nah an mich ranlassen kann ich das Ganze aber auch nicht. Ich halte halt privat dann auch Augen und Ohren offen, aber das täte vermutlich jeder andere Bürger auch, der die Vermisstenanzeige gesehen hat - zumindest die meisten.
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