Macht eine behütete Kindheit asozial?

vom 26.09.2016, 20:12 Uhr

Ich habe vor einigen Tagen gelesen, dass Forscher der Uni Jena herausgefunden haben wollen, dass Erwachsene, die sich für Schwächere engagieren, nicht zwingend in behütenden Elternhäusern aufwuchsen. Ganz im Gegenteil: Förderndes Erziehungsverhalten zeigte beim Thema "soziales Engagement" langfristig nicht die erwartete positive Wirkung. Eine Erklärung für dieses Phänomen gibt es bislang allerdings nicht.

Ich finde das schon sehr interessant. Ich habe bis dato angenommen, dass Kinder, die ein unterstützendes Verhalten ihrer Eltern mitbekommen haben, dieses auch weitergeben, was allerdings gegen die Studie spricht. Sollte man nun seine Kinder öfter mit seinen Problemen alleine lassen, um soziales Verhalten zu fördern? Wie ist dies zu erklären?

» Aguti » Beiträge: 3109 » Talkpoints: 27,91 » Auszeichnung für 3000 Beiträge



Wenn ich jetzt einmal von dem Standpunkt der "reichen Kids" ausgehe, die das Geld ihrer Eltern im hohen Bogen verprassen, geldmäßig gut behütet sind und auch im Allgemeinen, würde ich diese gewagte These unterschreiben. Bisher habe ich kein einziges Bonzen-Kind kennengelernt, was nicht ein asoziales Denkvermögen aufweist. Gleichwohl sie bei den Eltern so tun, als seien sie die sozialsten Kiddies denn je.

Ich selber bin schlecht bis gut aufgewachsen. Mal gab es so schlechte Situationen, dass das Jugendamt rausholen wollte. Dann gab es gute Situationen. Nach der Trennung von meinem Erzeuger war es dann endgültig besser. Auch wenn es nicht perfekt oder bilderbuchmäßig war, ließ es sich durchaus leben und war okay.

Ich würde mich trotzdem als asoziale Ruhrpottschnalle betiteln und liege damit oftmals auch nicht verkehrt. Ich habe Anstand, bin natürlich auch hilfsbereit usw. Doch ich habe eine Fresse am Kopf, die möchte man nicht kennenlernen. Ich sage, was ich denke. Egal, wem ich damit auf die Füße trete. Meine es vielleicht nicht immer böse, aber ich bin keine Blumenquatscherin!

In schriftlichen Verkehren wie im Forum habe ich allerdings Probleme das auszudrücken, was ich manchmal sagen möchte. Verbal ist das einfacher und kommt nicht so oft asozial oder missverständlich rüber wie hier zum Beispiel. Doch dafür kann man ja nachfragen oder erklären, nicht wahr?

Ich halte die These für gewagt, aber nicht unfalsch. Manch einer der so behütet aufgewachsen ist, zeigt durchaus solche asozialen Wandlungen, weil man eben sich für etwas besseres hält. Doch es gibt auch verdammt viele Ausnahmen, sodass man wohl personenbezogen schauen muss.

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» Kätzchen14 » Beiträge: 6121 » Talkpoints: 1,40 » Auszeichnung für 6000 Beiträge


Das ist etwas, was ich an mir selbst feststellen konnte. Als Kind wurde ich viel alleine gelassen, musste mich um mich selbst und auch meine Geschwister kümmern da meine Eltern "besseres" zu tun hatten. Das war auch der Grundstein für das soziale Engagement welches ich nur gelernt habe, weil ich die Verantwortung tragen musste und meine Geschwister dazu nicht in der Lage waren alleine vom Alter her.

Daher kann ich es schon unterschreiben, dass zu behütete Kinder mit denen über alles geredet werden muss, die Eltern alle Probleme für sie klären und auch alles in den Hintern stecken durchaus weniger soziale Kompetenzen und soziale Verantwortung vorhanden ist. Aber gerade die Eltern sind wirklich der Auffassung, dass sie alles richtig machen und ihre Kinder perfekt erzogen sind und sich in jede Personengruppe hinein versetzen können und auch entsprechend dann hilfsbereit sind.

Kätzchens letzter Absatz finde ich ebenfalls sehr treffend beschrieben, gerade mit den asozialen Verhaltensmuster was an den Tag gelegt wird weil man sich für etwas besseres hält durch die Bemutterung der Eltern in jeder Lebenslage. So muss sich das Kind auch kein eigenes Bild machen sondern übernimmt einfach das, was es vermittelt bekommt und sieht sich als "normal" an, obwohl es für andere bereits asozial ist.

Personenbezogen ist ebenfalls gut, sicherlich gibt es Ausnahmen die daraus ausbrechen und es anders machen als vorgelebt, aber das ist dann doch eher selten der Fall. Man wird wie man erzogen wird und was man vorgelebt bekommt, außer man nimmt das Zepter selbst in die Hand und ändert das. Aber welches Kind macht das schon? 95% vertrauen ihren Eltern blind auch im höheren Alter und hinterfragen die Dinge nicht.

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» Sorae » Beiträge: 19435 » Talkpoints: 1,29 » Auszeichnung für 19000 Beiträge



Ich kann zwar auch nur Anekdoten beisteuern, aber mir ist auch schon aufgefallen, dass sich manche Leute aus, sagen wir, "besseren" im Sinne von wohlhabenderen und behütenderen Elternhäusern mit grundlegender Empathie und sozialem Miteinander eher schwer tun.

Ich finde es auch irgendwo ganz verständlich: Wenn es in deiner Welt einfach nicht vorkommt und du selber nie erlebt hast, verzichten zu müssen, benachteiligt zu sein und dir die allermeisten Hindernisse aus dem Weg geräumt werden - wie sollst du da je lernen, dich in die Lage von anderen zu versetzen, deren größte Sorge vielleicht nicht ist, dass sie in der privaten Ballettschule die Meisterklasse nicht geschafft haben?

Bei vielen Leuten geht die "behütete Kindheit" ja nahtlos in das mit Nachhilfe/Bestechung arrangierte Abitur, das finanzierte Studium und im Extremfall in einen bequemen Job im väterlichen Unternehmen über, und so mancher Mitmensch macht anscheinend sein Leben lang keine dieser Erfahrungen, die für viele andere zum Alltag gehören. Seien es finanzielle Sorgen, Diskriminierung oder einfach nur, auf eigenen Füßen zu stehen oder mal auf etwas sparen zu müssen.

So entstehen in meinen Augen auch viele Vorurteile und engstirnige Weltbilder: Wenn immer jemand für dich "gesorgt" hat, woher sollst du dann nachvollziehen können, dass beispielsweise Obdachlose nicht aus Dummheit und Faulheit auf der Straße leben oder wie es ist, als berufstätiges, alleinerziehendes Elternteil nicht täglich drei Mahlzeiten persönlich frisch zu kochen, die Hausaufgaben zu betreuen, Ballett und Cello zu finanzieren und noch einen Schüleraustausch mit Brighton zu stemmen?

Ich habe auch den Eindruck, dass "soziales Engagement" in "besseren Kreisen" sich oft auf anonyme, schmerzlose Geldspenden beschränkt, sodass erst gar kein direkter Kontakt mit den weniger Begünstigten entstehen kann, wenn man von den Domestiken zu Hause mal absieht.

» Gerbera » Beiträge: 11332 » Talkpoints: 52,90 » Auszeichnung für 11000 Beiträge



Natürlich ist es so, dass man eher zusammen wächst und sich sozialer verhält, wenn man quasi auf der Suche nach Halt, nach einer Gruppe ist. Man möchte ankommen, weiß auch selber wie schwer das ist und da finde ich es sehr nachvollziehbar, dass man sich sozialer verhält. Wenn man hingegen nie etwas schlimmes sieht, die Eltern immer alles regeln und man nie sieht, dass man sich sozial einsetzen kann, dann zeigt man sich auch nicht sozial.

Meiner Meinung nach kann man auch ruhig seinen Kindern einen gewissen sozialen Sinn zeigen. Wir haben im letzten Jahr noch mal das Leben etwas umgestellt, mehr vom Plastik weg, auch mal bei to good to go gekauft und so weiter. Ich denke man hat schon auch ein besseres Verständnis für das eigene Leben bekommen im letzten Jahr und da habe ich ganz große Defizite in meinem eigenen Handeln gesehen.

Meine Kinder haben beide aktiv mitbekommen, wie ihre alten Spielsachen gespendet wurden, haben die Leute gesehen wo das dann hinging und gerade mein Sohn hat da viel gefragt. Ich habe ihm alles erklärt, meine Gründe dafür genau erläutert. Auch so sind wir Menschen, die helfen und das dann aber auch den Kindern erklären. Für uns ist das normal, aber wir versuchen den Kindern zu zeigen, warum so etwas wichtig ist und deswegen nehmen wir uns auch die Zeit die Dinge zu erklären, die für uns normal geworden sind. Man ist also auch Vorbild und wenn meine Kinder später nicht sozial sein sollten, weil sie ja dennoch viel bekommen haben, dann habe ich dennoch mein Bestes getan um ihnen alles richtig vorzuleben.

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» Ramones » Beiträge: 47746 » Talkpoints: 6,02 » Auszeichnung für 47000 Beiträge


Vielleicht sollte man erst mal klären, was man unter behütet versteht. Man kann es als aufwachsen in geordneten Verhältnissen ansehen, wo eben keine Hilfe von außen notwendig ist. Oder man nimmt die Beispiele, wo die Kinder wirklich alles bekommen, außer vielleicht Familienliebe und mit Geld und Sachwerten nur so überschüttet werden.

Aber egal, wie ein Kind aufwächst, es kann immer in eine Richtung abdriften und man wundert sich, warum es sich so entwickelt hat. Wer mit guten sozialen Kompetenzen erzogen wird, kann sich auch zum Egoisten entwickeln. Das kann man vorher nicht ausschließen. Genauso wenig kann man ausschließen, dass ein Kind, welches von zu Hause aus alles hatte, später sehr sozial agiert.

» Punktedieb » Beiträge: 17970 » Talkpoints: 16,03 » Auszeichnung für 17000 Beiträge


Mir fällt auf, dass hier vieles an den finanziellen Gegebenheiten festgemacht wird und das Stereotyp des bornierten Reichen gepflegt wird. Dabei macht sich eine behütete Kindheit ja eher an den Familienverhältnissen fest, und nicht zwingend am Kontostand der Eltern. Ich kenne Leute aus wohlhabenden bis wirklich sehr reichen Familien, die keine schöne bis eine absolut schreckliche Kindheit hatten. Und mit schrecklich meine ich den schlimmsten Missbrauch, den man sich nur vorstellen kann, während gleichzeitig ein sehr angesehener und gehobener Lifestyle gepflegt wurde.

Und auch bei diesen Menschen geht die Schere zwischen "schlimme Kindheit, später Sozialarbeiter" oder "Schreckliche Kindheit und jetzt Narzisstin" auseinander. Nicht alle Leute, die schwer traumatisiert sind, werden automatisch Streetworker. Mancher wird auch selbst gewalttätig oder schädlich. Denkt mal an Serienmörder, die hatten doch keine schöne Kindheit und sind natürlich die asozialsten Wesen der Gesellschaft.

Vermutlich stimmt es schon, dass jemand, der in behüteten Verhältnissen aufgewachsen ist, seltener den Drang verspürt, Psychologie oder artverwandte Fächer zu studieren, aber auch da habe ich andere Beispiele gesehen. Wobei man schon zugeben muss, dass sie wohl eher in der Minderheit sind oder ihre ganz eigenen Gründe haben. Aber dass in einem durchschnittlichen Seminar für Psychologie oder Sozialarbeit mehr Leute sitzen, die selbst entsprechende Erfahrungen in ihrer Kindheit gemacht hatten, ist ja eine Binsenweisheit, das ist nicht wirklich nur ein Vorurteil.

» Verbena » Beiträge: 4943 » Talkpoints: 1,99 » Auszeichnung für 4000 Beiträge



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