Konntet ihr bei euch den "licensing effect" beobachten?

Der "licensing effect" beschreibt ein psychologisches Phänomen. Es geht darum, dass der Mensch ohne Schuldgefühle eine schlechte Tat oder eine nicht so gute Tat vollbringen kann, wenn er zuvor eine gute Tat vollbracht hat. Diese moralische Lizenzierung soll man schon da beobachten können, wenn Menschen einen Einkauf gemacht haben mit biologischen, regionalen und tierfreien Produkten. Beim nächsten Einkauf sehen diese Menschen oder zumindest ein Teil dieser Menschen es wohl nicht mehr so eng, weil sie ja beim letzten Einkauf "Gutes" getan haben.

Auch soll man das schon beobachtet haben, wenn Menschen an einem Tag sehr hilfsbereit sind, dass sie dann am nächsten Tag eher egoistisch denken. Konntet ihr bei euch diesen "licensing effect" schon beobachten? Oder kennt ihr Menschen, wo man das genau sehen kann?

Bei der Ernährung ist das doch die Regel. Du hast dich die ganze Woche ausgewogen ernährt, also kannst du dir am Wochenende ohne schlechtes Gewissen das Menü inklusive Nachtisch und Wein gönnen. Oder du hast die ganze Woche vegetarisch gegessen und kannst dir deshalb am Wochenende ein gutes Steak gönnen.

Viel interessanter finde ich die Sache mit der Hilfsbereitschaft, weil das im Gegensatz zur Ernährung wahrscheinlich keine bewusste Entscheidung ist. Ich habe jedenfalls noch nie gedacht "jetzt habe ich gerade geholfen den Kinderwagen die Treppen hoch zu tragen, jetzt möchte ich nicht auch noch helfen einen Koffer in den Zug zu wuchten". Aber vielleicht führt der Kinderwagen ja tatsächlich dazu, dass ich bei dem Koffer nicht ganz so schnell meine Hilfe anbiete wie ich das ohne Kinderwagen getan hätte. Aber kann man so etwas wirklich überprüfen?

Klar ist das in der Regel so bei mir, dass ich wenn ich mich mal etwas ungesünder ernähre, das am nächsten Tag ausgleiche, in dem ich weniger Kalorien zu mir nehme und etwas gesünderes esse. Aber gute Taten gleiche ich nicht mit schlechten aus. Ich habe einfach meine Prinzipien und lebe danach.

Dann geschehen oft Dinge, über die ich gar nicht speziell nachdenke. Wenn ein kleines Kind vor mir im Fallen ist, greife ich doch sofort beherzt zu und verhindere das Schlimmste, ganz ohne nachzudenken, eher so intuitiv. Aber im Umkehrschluss schubse ich doch dann nicht seine Mutter in die Pfütze.

Ich glaube schon an eine Form der inneren Bilanzierung von Menschen. Wer letzte Woche einem Freund beim Umzug geholfen hat, wird dafür morgen umso leichter einer anderen Freundin absagen, wenn sie jemanden braucht, der auf den Hund aufpasst, von Leuten mit Helfersyndrom jetzt mal abgesehen. Ohne die Umzugshilfe hätte man sich vielleicht bezüglich des Hundes breitschlagen lassen oder bereitwillig zugestimmt. Dieses Gefühl, schon genug zu tun haben ist sicherlich vielen Menschen vertraut.

Psychologischer Ablasshandel ist ja auch derzeit bezüglich der CO2-Bilanz zu beobachten. Wer viel fliegt, spendet einfach etwas Geld, damit irgendwo ein Stückchen Wald aufgeforstet werden kann und man Ablasshandel bezüglich seiner Klimasünden begangen hat. Das folgt einem ähnlichen Prinzip. Mein eigenes Handeln würde ich meist irgendwo in der langweiligen Mitte einordnen, wo es weder hehre, altruistische Handlungen gibt, aber auch keine sonderlich egozentrischen.

Mir fällt da das Beispiel einer Bekannten ein, deren Handlungsweisen extrem divergierend sind und die sehr gut in dieses Bild passt. So opfert sie sich ständig bezüglich der Arbeit auf, nimmt einen Haufen Arbeit mit, ist mehr als hilfsbereit. Auf der anderen Seite beklaut sie trotzig ihren Arbeitgeber, wenn es um Materialien geht. Ich hatte immer schon den Eindruck, dass sie sich mit dem erstem Handeln eine Legitimation für zweites schafft bzw. einen Ausgleich sucht, weil sie sich ja so aufopfert.