Können Suchtkranke ihre eigene Sucht rational beurteilen?
Ein Bekannter von mir, ich glaube darüber habe ich mal etwas erwähnt gibt an, dass er Alkoholkrank sei. Durchaus ist aufgefallen, dass er es mal hier oder da mit dem Trinken übertreibt, aber haben wir ihn niemals als alkoholkrank eingestuft, weil er auch mal wochenlang oder monatelang gar nichts trinkt.
Nun hat er offenbar das Gefühl gehabt, er muss uns alle im Bekannten- und Freundeskreis das mitteilen, was wir Okay finden. Doch aktuell kommen Zweifel an seiner „Geschichte“ auf von vielen Seiten sowie all jenen, die darüber wissen. Von mir jedoch nicht, weil ich mir einrede, dass einen vielen Menschen ihre Probleme eben vielleicht auch ganz anders sehen, als sie wirklich sind oder scheinen.
Das heißt, er stellt sich als alkoholkrank da, aber ist in der Lage tagelang mal nichts zu trinken. Auch kann er sich super gut auf Partys zusammenreißen und trinkt gemächlich. Seine beste Freundin meinte nun zu ihm, dass er nicht alkoholkrank sei, sondern nur viel trinken würde.
Eine andere Person ist gar der Meinung, dass er das „alkoholkrank“ vorschieben würde, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich wiederum glaube, dass er schon ein Problem mit dem Alkohol hat, aber er vielleicht selber die Situation ausweglos und alkoholkrank definiert. Ich denke halt einfach, dass er es nicht besser weiß.
Meine Theorie ist eben, dass Alkoholkranke oder Suchtkranke im Allgemeinen ihre Süchte entweder zu locker nehmen und manch einer vielleicht auch zu überdramatisch darstellen. Das aber nicht aus böswilliger Absicht, sondern aus der eigenen Wahrnehmung heraus und so glaube ich das auch bei unserem Bekannten.
Daher mal eine Frage an Euch, glaubt Ihr, dass Suchtkranke wirklich in der Lage sind, ihre Situation wirklich real bezogen wiedergeben zu können? Oder denkt Ihr, dass es durchaus sein kann, dass dort das eigene Empfinden zu Übertreibungen oder Untertreibungen neigt? Welche Erfahrungen konntet Ihr da in der Vergangenheit machen?
Eine direkte Erfahrung aus meinem Umfeld habe ich nicht, aber aus deiner Beschreibung und von den Berichten, die ich so aus Artikeln oder Gesprächen. Vorträgen kenne, könnte ich mir schon vorstellen, dass die Sucht von jedem Individuum unterschiedlich wahrgenommen wird.
Also ich glaube hier gibt es eine breite Palette an Menschen, die wissen, dass sie eine Sucht haben, die sich die Sucht nicht eingestehen wollen oder die ihre Sucht schlimmer darstellen als sie wirklich ist. Ich finde dabei eher am wichtigsten klar zustellen und festzumachen, ob denn wirklich eine Sucht besteht und welche Sucht das ist. Also wie groß der Schaden durch diese Abhängigkeit im Körper ist.
Zunächst einmal denke ich, dass Süchte bei unterschiedlichen Menschen auch variabel ausgeprägt sind und dass es allein vom Konsumverhalten, das man als Außenstehender beobachten kann, kaum möglich ist, Rückschlüsse auf die tatsächlichen Umstände zu ziehen. Es könnte ja auch sein, dass der Bekannte sich in Gegenwart anderer zurückhalten kann, dafür aber heimlich trinkt, wenn er alleine ist. Auch gibt es sogenannte "Quartalstrinker", die zwar über längere Phasen hinweg trocken bleiben können, dann aber bei bestimmten Gelegenheiten die Kontrolle verlieren und in einen regelrechten Exzesss verfallen. Auch das sind Formen der Alkoholkrankheit.
Süchte haben ja generell das Charakteristikum, dass sie den Betroffenen in ein Verhalten treiben, das dieser nicht mehr bewusst steuern kann. Auf der kognitiven Ebene zeigt sich das oftmals in Verdrängung, Bagatellisierung, Abwehrmechanismen und defensiven Ausreden sowie in einer Verzerrung der Wahrnehmung gegenüber dem eigenen Verhalten. Was andere als pathologisch und auffällig empfinden, ist für den Süchtigen häufig zum Alltag geworden und wird auch so eingestuft.
Ein akut Kranker wird daher wahrscheinlich nicht in der Lage sein, seine Erkrankung realistisch zu beurteilen, es sei denn er befindet sich in Therapie und bekommt professionell vorgezeigt, was die Tatsachen sind. Im Rahmen der Behandlung wird auch viel Psychoedukation betrieben, die dem Erkrankten helfen soll, Warnsymptome wahrzunehmen und darauf nicht mit Suchtverhalten, sondern mit gegengesetzten Verhaltensweisen zu reagieren und somit die Selbstwirksamkeit zu stärken. Im Laufe der Zeit festigen sich diese Strukturen dann und die Person bekommt ihre Kontrolle und ihre reale Wahrnehmung Stück für Stück zurück.
Regelmäßige und längere Trinkpausen sind typisch und normal und viele Alkoholiker können dies ohne Weiteres, das hat auch mit Quartalstrinkern wiederum nichts zu tun. Was sie eben nicht können, ist dem Verlangen nach Alkohol dauerhaft zu widerstehen, das ist der Punkt. Es gibt auch Fragenkataloge für Abhängige, immer wiederkehrende, gescheiterte Versuche, auf eigene Faust ganz mit dem Alkohol aufzuhören oder den Konsum zu reduzieren, gelten auch als klares Merkmal für die sog. "Kritische Phase".
Hier setzt auch ein trügerisches Denken ein, das bei den meisten Alkoholikern gleich abläuft und auch typisch ist. Da man ja noch phasenweise ohne Alkohol auskommt, ist es ja gar nicht so schlimm und anders, als bei anderen. Weswegen man sich ja nach einer Weile ruhig was gönnen kann. Dies ist bereits das Suchtgedächtnis, das das Denken steuert und Rechtfertigungen zum Trinken konstruiert.
Auch sich öffentlich zurückzuhalten beherrschen viele Alkoholiker gut, dafür wird dann zuhause kräftig nachgeschenkt. Ihr seht ja nur die Oberfläche, bzw. was er zulässt und könnt nicht beurteilen, wie ernst es wirklich ist. Das kann nur der Betroffene selbst. Wenn es ein Problem für ihn ist und er darunter leidet, dann ist es eines.
Zumal Alkoholabhängige Großmeister im Verstecken ihrer Sucht sind. Ich kennen jemanden, der bereits körperlich schwerstabhängig war und schon morgens vor der Arbeit trinken musste. Als er sich outete, war seine ganze Umgebung völlig überrascht, nicht mal seine Ehefrau hat etwas mitbekommen - kein Witz. Auch seine Arbeit hat er so bis zuletzt gut und unauffällig hinbekommen.
Angefangen hat es bei ihm übrigens mit nur 2 Bier am Abend, konstant über viele Jahre. Dies klingt zunächst unproblematisch. Aber es war dann irgendwann so, dass er echt nervös wurde und Schweißausbrüche bekam, wenn er diese beiden Biere nicht bekam. Es kommt also auch nicht auf die Menge an, sondern auf die Person dahinter. Im Prinzip ist die Sucht eine mathematische Gleichung, bei der die Unbekannte X das Individuum ist.
Nun ist ist es auch so, dass ein nicht abhängiger Mensch sich überhaupt keine Gedanken in diese Richtung machen würde. Dass er sich veranlasst sieht, sich mit seinem Problem auseinanderzusetzen, belegt ja schon in sich, dass dort irgendetwas im Argen liegt. Nicht abhängige Menschen kommen überhaupt nicht auf die Idee, sich so mit dem Alkohol auseinanderzusetzen.
Auch wenn er erst am Anfang der Abhängigkeit steht, obwohl man schon fortgeschritten dabei sein muss, um überhaupt den Wunsch dagegen anzugehen zu entwickeln, kann man gar nicht früh genug aufhören. Es wird schließlich nicht leichter und er muss ja nicht abwarten, bis es wirklich schlimm wird - und es wird immer schlimmer werden. Ich bin mir sicher, dass Ihr ihn ernst nehmen solltet.
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