Jemanden mit "Meine Liebe" ansprechen - wie empfinden?

A hat eine neue Bekannte, die sie aber noch nicht so gut kennt. Nun fiel ihr einige Male auf, dass die andere Frau sie am Telefon mit "Meine Liebe" ansprach. A kann das aufgrund mangelnder Erfahrung mit einer solchen Anrede und der Neue der Bekanntschaft noch nicht einordnen, wie sie das findet oder generell zu deuten hat. Ich selbst kann da auch keine wirklich Meinung beisteuern, weil ich ebenfalls auf keinerlei Erfahrungsschatz zurückgreifen kann.

Die wenigen Male, dass ich jemandem gegenüber diese Formulierung benutzte, war bei einer guten Freundin und es war immer ironisch und neckend gemeint. Selbst bin ich allenfalls in einem solchen Kontext so genannt worden, das war es aber auch schon. Ich muss dazu sagen, dass beide schon älter als ich sind und keine jungen Leute mehr. Auch kenne ich natürlich den Tonfall nicht, das macht das Zuordnen noch schwieriger.

Wie meinen Menschen denn eurer Meinung nach gemeinhin solch eine Anrede? Liebevoll, zugewandt und humorvoll oder eher seltsam, altmodisch und unangemessen? Empfindet ihr es vielleicht sogar als ironisch, süffisant bis herablassend oder doch auf augenzwinkernde und charmante Weise "Old school"? Würdet ihr so eine Formulierung benutzten oder habt ihr das je? Hat euch jemand jemals derart angeredet?

Es gibt Menschen, die immer so die Leute ansprechen. So kenne ich beispielsweise eine Friseurin, die ihre Kunden und eigentlich einfach jeden immer mit "Meine Liebe", "Schatz", "Süße" und so weiter anspricht. Sie macht das einfach immer so und normal geht bei ihr gar nicht mehr. Es muss also nicht immer diese romantische, nette und liebe Bedeutung haben, aber ich denke schon, dass die Bekannte das nett meint und einfach mehr befreundet sein möchte.

Ich selber würde eine solche Anrede sicher nicht verwenden, weil das auch gar nicht zu mir passt. Aber ich habe es auch schon erlebt, dass ich so angeredet werde. Eine Kundin redet mich und auch meine Kolleginnen gerne so an, wobei ich da dann davon ausgehe, dass es einfach nett gemeint ist. Ansonsten würde ich das gerade bei dieser Anrede immer sehr von der Tonlage abhängig machen. Darum kann ich nun auch nicht pauschal sagen, wie es im beschriebenen Fall wohl gemeint sein könnte.

Es scheint gerade sehr in Mode zu sein, eine Frau mit "meine Liebe" anzusprechen. Ich habe das auch schon im Internet auf Verkaufsplattformen gemerkt. Bei Kleiderkreisel wurde ich dann auch immer mit "meine Liebe" oder " Hallo Liebes" angeschrieben. Daher scheint es gerade im Trend zu sein.

Ich finde es auch etwas befremdlich, wenn mich so jemand anspricht, der mich eigentlich gar nicht kennt. Ich benutze diese Form der Ansprache gar nicht und finde sie auch Fremden gegenüber eher unangebracht.

Meine 60-jährige Kollegin aus Polen macht das gerne, wenn sie sich ereifert. Sie nennt meine 40-jährige Kollegin und mich (ebenfalls mittleren Alters) auch gerne "Mädchen" oder schlimmer noch "meine Damen", wenn sie uns mal wieder erklären muss, wie die Welt funktioniert, weil wir offensichtlich zu allem zu blöd sind. Ich reagiere darauf für gewöhnlich wie ein Boxer auf den Gong - mit Adrenalin und Augenrollen.

Das liegt vor allem am Zusammenhang. Die Alte, wie ich sie liebevoll hinter ihrem Rücken nenne, ist ebenso beschränkt wie wichtigtuerisch, herablassend und defensiv und pumpt sich sofort auf wie ein Truthahn, wenn sie den Eindruck hat, nicht ernst genommen zu werden. Außerdem versteht sie keine Ironie und keinen Spott, weswegen auf jeden dummen Spruch, der zwischendurch mal von Schreibtisch zu Schreibtisch zu hören ist, ein gekeiftes "Meine Liebe!" aus dem Polenwinkel kommt.

Generell finde ich diese Anreden je nach Zusammenhang altjüngferlich, kindisch oder generell zu vertraulich. Ich habe einen funktionierenden Vor- und Nachnamen und meinen Freund nennt der Friseur ja auch nicht "Süßer". Das würde ich nur von alternden Damen-Imitatoren durchgehen lassen, bei denen eine gewisse Trashigkeit zur Show gehört.

"Meine Liebe" und "Mein Lieber" sind Ansprachen, die das Gegenüber herabsetzen und gönnerhaft behandeln. Das drückt immer ein Gefälle von oben nach unten aus. Im Prinzip macht der Sprecher oder Schreiber sein Gegenüber zur Minna. Denn das ist ursprünglich eine besonders vertrauliche Anrede für Dienstpersonal. Meine Uroma, die Gouvernante aus verarmtem Landadel war da ganz groß drin. Sämtliche Dienstleister und alle "einfachen" Bekannten, mit denen die verkehren musste, kamen in den Genuss.

Heute ist es immer noch so, nur trifft es mangels Dienstpersonal offensichtlich oder vermeintlich gesellschaftlich schlechter Gestellte. Also der Chef zu Angestellten oder auf der Betriebsfeier zu Angehörigen derselben. Man kann es natürlich auch als gezielte Spitze nutzen. Aber das scheint nur noch wenigen klar zu sein. Die fühlen sich geehrt und geben die ach so nette Anrede gleich unters Volk.

Ich kenne diesen Ausdruck auch und nutze ihn auch selbst hin und wieder. Ich muss schon sagen, dass ich ihn nicht als ganz neutral ansehe. Ich finde schon, dass es ein klein wenig herablassend wirkt, wenn man jemanden so anspricht, was aber nicht immer schlimm sein muss. In gewissen Situationen passt es ja scherzhaft.

Wenn mein Freund beispielsweise etwas sagt und ich weiß, dass er Unrecht hat und ihn daraufhin korrigiere, setze ich diesen Ausdruck auch gerne dazu. Das ist dann aber scherzhaft gemeint, wobei es aber natürlich schon so gedacht ist, dass ich es damit noch verstärke, dass ich der Meinung bin, Recht zu haben.

Ich finde den Ausdruck in Ordnung, wenn es scherzhaft gemeint ist oder wenn man Freunde so anspricht. Manchmal passt der Ausdruck ja doch, ohne dass es ironisch gemeint ist. Fremde würde ich aber auch eher nicht so ansprechen oder anschreiben, da es doch schnell mal falsch verstanden werden kann.