Gab es früher keine klassische Liebesheirat?

vom 10.07.2015, 11:03 Uhr

Wenn man sich mit älteren Menschen unterhält, dann kann man viel lernen und auch viele interessante Dinge erfahren. Ich habe beispielsweise aus den Gesprächen mit meinen Großeltern erfahren, dass es früher üblich war, einfach Leute quasi zu verheiraten. Es war häufig nicht so, dass man sich verliebt und dann geheiratet hat. Vielmehr war es wichtig, die eigene Tochter oder den eigenen Sohn unter die Haube zu bekommen. Mein Großeltern sagten immer, dass das mit der Liebe dann im Laufe der Zeit automatisch gekommen ist.

Eine klassische Liebesheirat kannten sie eigentlich gar nicht und sie meinten, dass das in den meisten Fällen auch nicht der Fall war. Heute sei das anders, so ihre Aussagen. Aber ist das früher wirklich so gewesen? Wie denkt ihr darüber? Wie haben es die Leute dann eigentlich so lange in funktionierenden Ehen ausgehalten?

» GoroVI » Beiträge: 3187 » Talkpoints: 2,66 » Auszeichnung für 3000 Beiträge



Das kommt doch ganz darauf an, wann früher du meinst. Im Mittelalter konnte das einfache Volk Glück haben und oft den Partner frei wählen. Es war zwar die Zustimmung des Vogts oder ähnlicher "Vorgesetzter" nötig, aber die gab es durchaus.

Im Adel war das fast ausgeschlossen, da war es reine Glückssache. Ehen vergrößerten Herrschaftsgebiete und besiegelten Bündnisse. Da wurde nicht gefragt, ob die Eheleute sich leiden können, die mussten sich nicht einmal gesehen haben. Kleine Kinder wurden schon versprochen und im passenden Alter dann zu ihrem Partner geschickt.

Im Bürgertum war es nicht anders. Ehen dienten Geschäftsbeziehungen, die Mitgift der Braut rettete Geschäfte vor dem Bankrott, später kam man über die Tochter mit der guten Mitgift in Familien aus dem Kleinadel, denen das Geld fehlte. Es ging nicht darum glücklich zu sein, man hatte seine Pflicht zu erfüllen und fertig.

Im Prinzip blieb das sehr lange so. Ein Mann brauchte eine Frau, weil er sonst sein Leben kaum geregelt bekommen hat, eine Frau brauchte einen Versorger. Denn er konnte kaum nach 10 oder mehr Stunden Arbeit den Haushalt führen und sie benötigte jemanden, der ihren Lebensunterhalt sichert. Dafür bekam sie dann Kinder und hatte das Haus im Griff.

Meine Urgroßeltern haben aus Liebe geheiratet. Dafür mussten sie aber alles verlassen, was sie kannten. Eine verheiratete Gouvernante beschäftigte niemand und ein Kutscher konnte keine Familie ernähren. Ihre Ehe war nur möglich, weil er bereit war, als Bergmann zu arbeiten und sie sich mit bescheidenen Verhältnissen zufrieden gegeben hat, damit man zusammen sein kann.

Meine Großeltern mussten heiraten, denn sie war schwanger. Da sie aus "besserem" Haus kam, war das für ihre Familie eine Katastrophe. Die Ehe war eine eben solche. Aber eine Trennung war undenkbar, wovon hätte sie mit den Kindern leben sollen?

Und meine Mutter? Die hat tatsächlich nie geheiratet und ihren Weg gemacht. Aber sie musste ohne Ausbildung klar kommen, das durften nur ihre Brüder. Nach der 9. Klasse Volksschule "durfte" sie putzen gehen, damit sie Geld beiträgt und den Haushalt schmeißen. Schließlich wird sie nur heiraten. Und bei meiner Mutter liegt das nicht so lange zurück, die ist eine Weile vor dem Krieg geboren worden.

Nach dem Krieg war es dann auch nicht besser. Im Krieg mussten Frauen zusehen, wie sie zurechtkommen, danach hatten sie wieder keine Meinung zu haben. Meine Schwiegermutter war die erste Beamtin in ihrer Behörde. :shock: Das war in den späten 60-ern. Da wurde meist nämlich auch gefälligst geheiratet.

» cooper75 » Beiträge: 13411 » Talkpoints: 515,76 » Auszeichnung für 13000 Beiträge


Ich finde auch, dass es nicht nur darauf ankommt, was man mit "früher" meint, sondern auch auf die Kultur und auf die Gesellschaftsschicht. In unseren Breiten redet man natürlich schwerpunktmäßig vom leidlich gebildeten, städtischen Bürgertum. Für den Adel galten schon immer andere Regeln, und was die breite Masse der Landbevölkerung so getrieben hat, steht sowieso noch mal auf einem ganz anderen Blatt und wird selten als Vergleich heran gezogen.

Ich kann mir schon vorstellen, dass es "früher", also zu allen Zeiten auch Liebesheiraten gegeben hat, aber gerade die bürgerliche Gesellschaft hatte eben oft andere Prioritäten und gesellschaftliche Normen. Eine Heirat war immer auch eine Statusfrage, und auch die Möglichkeiten, sich vor der Hochzeit wirklich kennen zu lernen waren ganz anders als heute, wo man in der Regel schon zusammen lebt und auch die sexuelle Kompatibilität ausführlich getestet hat, bevor man aufs Standesamt marschiert. ;)

Also haben sich viele Brautleute einfach arrangieren müssen, nehme ich an, zumal da eine Scheidung zumindest bei Frauen gerne mal ein gesellschaftliches Todesurteil bedeutet hat. Anerkannte Jobs gab es für sie keine und die Kinder mussten ja schließlich auch versorgt werden. Ansonsten musste man sich als arme Verwandte von der Familie aushalten lassen, wenn man keinen Ehemann an Land ziehen konnte. Ich kann mir auch vorstellen, dass die Ansprüche an eine funktionierende Beziehung in vergangenen Generationen ganz anders gelagert waren als heutzutage.

Beispielsweise würde ich spekulieren, dass viele Eheleute schon mit einer von leidlichem Respekt und gegenseitiger Achtung geprägten Beziehung, in der man sich nicht schikaniert und demütigt zufrieden waren und gar nicht auf die Idee gekommen wären, sich nach heißer, aufregender Liebe und Romantik zu verzehren. Die Erziehung spielt dabei natürlich auch eine Rolle. Wenn man dir von Kindheit an klar machen würde, was eine "gute Partie" ist, und aus welchen Kreisen dein Ehepartner stammen wird, würdest du diese Vorstellungen höchst wahrscheinlich auch übernehmen und gar nicht auf die Idee kommen, dass es auch anders geht.

» Gerbera » Beiträge: 11332 » Talkpoints: 52,90 » Auszeichnung für 11000 Beiträge



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