Ethischer Relativismus - wie ist er bei euch ausgeprägt?

vom 10.05.2015, 14:48 Uhr

Ich habe mal über die Theorie der moralischen Entwicklung des Forschers Jean Piaget gelesen. Er hat beschrieben, wie Kinder ihre Umwelt wahrnehmen und wie die Entwicklung von Normen und Vorstellungen auch über die Kindheit bis in das Erwachsenenalter erfolgt.

Dafür haben die Forscher spezielle Dilemma-Situationen verwendet. Eine lautete etwa sinngemäß so, dass jemand für einen dringenden medizinischen Notfall ein Medikament aus der Apotheke braucht, aber die will das nicht herausgeben, wegen fehlendem Rezept oder so. Also es geht in den Dilemma-Situationen um Konflikte zwischen einer scheinbaren Gesetzeslage oder Regel und einer gewissen moralischen Komponente. Ich glaube, man konnte dann zwischen verschiedenen Antwortmöglichkeiten wählen oder zu der Dilemma-Situation frei assoziieren.

Jedenfalls ist Piaget aufgefallen, dass es die Antworten stark vom Alter abhängen. Kinder handeln etwa oft aus egoistischen Motiven und müssen erst einmal verstehen, dass sie auch an andere denken müssen. In einer gewissen Altersphase werden Regeln erkannt und als verbindlich erachtet. In einer bestimmten Phase orientierten sich Menschen sehr stark an Regeln. Sie erkennen diese also und sehen sie als verbindlich an. Das sei die Stufe der moralischen Entwicklung, in der sich die meisten Erwachsenen befinden.

Es gäbe aber noch eine höhere Stufe, nämlich die des ethischen Relativismus. Das bedeutet, dass man Regeln oder Gesetze nicht immer als gegeben ansieht, sondern erkennt, dass diese eigentlich für übergeordnete Werte stehen. Oftmals geht es etwa im Kern darum, niemanden zu verletzen, niemandem zu schaden oder Ressourcen zu erhalten. Und konkrete Regeln sind aus diesen übergeordneten Werten abgeleitet.

Und im Beispiel mit der Apotheke würde das bedeuten, dass jemand zwar weiß, dass man eigentlich nicht klauen darf, dass man aber sieht, dass die Anwendung dieser Regel in dem konkreten Fall nicht sinnvoll ist und man sich hier für den wichtigeren Wert (Menschenleben retten) entscheidet und aussagen würde, dass man dann das Medikament klauen würde.

Das ist jetzt ein recht abstraktes Beispiel, aber die Aussage dahinter ist, dass es manchmal sinnvoll sein kann, sich nicht an konkrete regeln zu halten, wenn man dadurch einen wichtigeren Wert umsetzt. Ich finde auch, dass es manchmal Situationen gibt, wo es keinen Sinn macht, sich an konkrete Regeln zu halten und niemand Schaden erleidet, wenn man es nicht tut bzw. man selbst oder andere eher einen Nutzen davon haben. Von daher würde ich sagen, dass ich durchaus das relativistische Denken verinnerlicht habe.

Denkt ihr relativistisch? Wie grenzt ihr ab, ab wann es sinnvoll ist, sich nicht an konkrete Regeln zu halten?

» Zitronengras » Beiträge: » Talkpoints: Gesperrt »



Das Beispiel mit der Apotheke kann ich nicht wirklich nachvollziehen. Wenn ich wüsste, dass jemand ein verschreibungspflichtiges Medikament braucht und kein Rezept hat würde ich es nämlich gar nicht erst in einer Apotheke versuchen sondern direkt den Notarzt anrufen. Selbst wenn ich ich es irgendwie schaffen würde an das Medikament zu kommen würde das mehr Zeit kosten.

Ganz generell würde ich in einem Notfall aber schon gewisse Gesetze brechen und einfach darauf hoffen, dass man im Nachhinein für mein Verhalten Verständnis aufbringt falls ich erwischt werden sollte. Ich würde mich zum Beispiel nicht an eine Geschwindigkeitsbeschränkung halten wenn ich jemanden im Auto hätte, der dringend ins Krankenhaus muss.

Wirklich interessant wird moralischer Relativismus für mich erst, wenn es um abstraktere und komplexere Fragestellungen geht. Die meisten Menschen werden zum Beispiel sagen, dass sie die Tötung eines Menschen als schlecht, unmoralisch oder etwas ähnlich negatives empfinden, aber viele werden trotzdem Beispiele für Situationen finden, in denen sie dieses befürworten würden, man denke nur an einen Verteidigungskrieg oder einen assistierten Selbstmord.

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» Cloudy24 » Beiträge: 27476 » Talkpoints: 0,60 » Auszeichnung für 27000 Beiträge


In Deutschland leben wir in relativer Rechtssicherheit. Wenn man gegen ein Gesetz verstößt, weiß man ziemlich sicher, was einen dafür erwartet. Man kann sich also irgendwie ausrechnen, ob es sich lohnt. Das erleichtert die Sache meiner Meinung nach. In einem willkürlichen System herrscht bei jeder Regelüberschreitung Angst, weil man auch eine unverhältnismäßig hohe Strafe dafür bekommen könnte.

Andererseits ist bei uns die Not nicht so hoch. Wie Cloudy24 schon sagte, wenn man kein Rezept hat, geht man zum Notfallarzt. So gibt es für viele Situationen Lösungen, die keine Regelüberschreitung beinhalten. In anderen Ländern ist die Not aber oft höher als die Angst vor möglichen Folgen und es gibt keine legalen Lösungen.

Von daher denke ich, dass die Bereitschaft zu ethischem Relativismus nicht nur vom Alter abhängt und vom Verständnis für Regeln, sondern eben auch von dem System, in dem man aufgewachsen ist und in dem man lebt.

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» Bienenkönigin » Beiträge: 9448 » Talkpoints: 19,93 » Auszeichnung für 9000 Beiträge



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