Empathie auch ohne ähnliche Erfahrungen möglich?

vom 27.12.2016, 06:23 Uhr

Der Lebensgefährte meiner Freundin hat in meinen Augen die Empathiefähigkeit eines Teelöffels. Sie hat einen Trauerfall in der engeren Familie zu beklagen, wobei er gestern bei unserem Treffen nicht gerade mit Sensibilität und Empathie geglänzt hat. Ich fand einige Kommentare von ihm schon ziemlich unpassend und schon fast respektlos.

Ich denke aber auch, dass er wahrscheinlich nichts dafür kann. Soweit ich weiß hatte er nie einen Trauerfall zu beklagen. Seine Großeltern sind gestorben als er noch sehr sehr klein war. Er hat keine Erinnerungen mehr an sie. Auch ist seine Verwandtschaft so groß, dass die Kontakte gar nicht alle gepflegt werden können. Er kennt auch gar nicht alle Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen und konzentriert sich eher auf die allerengste Familie, sprich: Eltern, Geschwister und deren Familien eben. Da gab es noch gar keinen Trauerfall, sodass er eben gar nicht wissen kann, wie sich das wirklich anfühlt.

Daher regen mich solche Äußerungen von ihm über Todesfälle total auf, aber gleichzeitig habe ich schon Verständnis dafür. Ich bin der Ansicht, dass man oftmals nur dann wirklich nachfühlen kann, wie es anderen geht, wenn man Ähnliches selbst durchmachen musste. Sonst bleiben derartige Gefühle einfach nur abstrakt und schwer fassbar. Man hat vielleicht eine sehr nebulöse Vorstellung, aber das erlebt zu haben, ist noch mal was komplett anderes. Wie seht ihr das? Ist Empathie in euren Augen auch dann möglich, wenn man keine ähnlichen Erfahrungen in seinem Leben gemacht hat? Oder kann Empathie jeder, wenn er nur will?

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» Täubchen » Beiträge: 33305 » Talkpoints: -1,02 » Auszeichnung für 33000 Beiträge



Ich finde das Verhalten sehr unsensibel und auch nur schwer nachvollziehbar. Selbst wenn man noch nie einen geliebten Menschen verloren hat, kann man sich doch eigentlich vorstellen, wie das sein muss. Gerade wenn man dann auch sieht, wie nahe dies seinem Partner geht und wie sehr dieser eben trauert.

Mein Partner hat die Theorie, dass es wirklich sein kann, dass jemand kein Verständnis für einen Todesfall in der Familie hat, der dies eben noch nicht selbst erlebt hat. Aber diese Menschen dann die Jenigen sind, die bei einem Todesfall in der eigenen Familie total zusammenbrechen und nicht wieder hoch kommen. Mir ist das aber doch irgendwie unbegreiflich. Man muss sich doch nur mal vorstellen, dass ein geliebter Mensch verstirbt und kann sich dann vielleicht Ansatzweise vorstellen, wie es dem Partner gerade gehen muss.

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» Nelchen » Beiträge: 32238 » Talkpoints: -0,25 » Auszeichnung für 32000 Beiträge


Auch wenn man es noch nie erlebt hat, sagt einem doch der gesunde Menschenverstand, dass es den Angehörigen des Verstorbenen im Moment nicht gut geht, dass sie traurig sind und dass es nicht die richtige Zeit für Witze ist. Das muss man nicht fühlen, das weiß man einfach.

Meine Mutter ist da aber ähnlich. Die benimmt sich bei Trauerfällen auch total daneben. Als der Onkel vom Freund meiner Schwester gestorben ist, machte sie Witze darüber, dass sie in die Karte an die Familie reinschreibt, dass er es jetzt hinter sich hat. Sie hat noch so viel Anstand, es natürlich nicht reinzuschreiben. Aber meine Schwester mochte den Mann, sie war traurig und sie saß direkt daneben.

Als der Vater meiner Mutter starb, hatten wir alle gar nicht das Gefühl, dass sie trauert. Sie hat uns das dann mal vorgeworfen, dass wir gar keine Rücksicht auf ihre Trauer genommen hätten. Dabei hat sie einfach keine gezeigt. Sie hatte auch kein herzliches Verhältnis zu ihm und er war über 90. Sie ist generell kein Mensch mit viel Herz oder der viel Gefühle zeigt.

Ich denke aber schon, dass sie diese Gefühle hat. Sie ist nicht komplett empathielos. Das schräge Verhalten liegt eher daran, dass sie nicht weiß, wie sie sich verhalten soll. Dass sie so unsicher ist, wie viel Gefühl sie jetzt zeigen soll, dass sie halt Blödsinn redet. Oder dass sie so bemüht ist, ihre Gefühle nicht zu zeigen, dass sie sie mit Blödsinn überdeckt.

Die Eltern meiner Mutter waren auch keine herzlichen Menschen und sie haben in einer lieblosen Ehe verharrt. Ich denke, meine Mutter hat nie gelernt, Gefühle zu zeigen. Und sie ist wohl auch mit der Zeit abgestumpft. Bei Trauerfällen merkt man das dann ganz besonders, weil alle anderen superempfindlich sind und sie ein Fettnäpfchen nach dem anderen heranzieht, um ordentlich reinzustapfen.

Also: ich glaube nicht, dass es unbedingt Empathielosigkeit ist, sondern vielleicht eher die Unfähigkeit, die empfundene Empathie auszudrücken. Auch ohne die entsprechende Erfahrung weiß man ganz rational, dass es scheiße ist, einen lieben Angehörigen zu verlieren. Wirklich nachfühlen ist dafür gar nicht nötig. Oder natürlich ihm sind die Gefühle seiner Freundin wirklich egal. Aber das würde man dann auch in vielen anderen Situationen merken.

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» Bienenkönigin » Beiträge: 9448 » Talkpoints: 19,93 » Auszeichnung für 9000 Beiträge



Empathie kann meiner Erfahrung nach bei Weitem nicht jeder, und sie hat nur sehr bedingt etwas damit zu tun, ob man "will". Ich bin jetzt keine Psychologin und es kann auch sein, dass ich mit überdurchschnittlich vielen kaputten Charakteren Erfahrungen gemacht habe, aber in meinen Augen sind viele Leute einfach nicht in der Lage, sich in das Gefühlsleben anderer hinein zu versetzen.

Beispielsweise hat eine Arbeitskollegin von mir, als ich drei Tage nach der Beerdigung meiner Mutter wieder am Arbeitsplatz erschienen bin, als Erstes vorgeworfen, dass sie während der drei Tage so viel Post zum Auspacken hatte. Danach habe ich detailliert erfahren, wie ihre Mutter vor 20 Jahren verstorben ist, im Sinne von "Bei mir damals war alles viel schlimmer, weil MEINE Mutter 1995 in St. Petersburg drei Tage tot in ihrer Wohnung gelegen ist!"

Eine andere Bekannte interessiert sich wiederum brennend für Krebserkrankungen im näheren und weiteren Umfeld und verhört die Betroffenen und ihre Angehörigen mit geradezu obszöner Neugier zu den Details der Diagnose und Behandlung, ohne auch nur eine Spur Mitgefühl zu zeigen. Besonders faszinierend findet sie es, wenn Leute von der Chemotherapie die Haare verlieren, da würde sie offensichtlich am liebsten Fotos machen. Und die gute Frau hatte selber einen stattlichen Tumor, der sie umgebracht hätte, wenn er sich nicht doch als gutartig herausgestellt hätte.

Aus diesen und anderen Erfahrungen heraus habe ich geschlossen, dass sehr viele Menschen sich nicht in andere hinein versetzen können, und dies ganz unabhängig davon, ob sie vergleichbare Erfahrungen gemacht haben. Diese Leute wissen natürlich nicht, dass ihnen ein wichtiger Teil fehlt, sondern sie wundern sich umgekehrt, wieso ihre Umwelt ständig am Leiden ist, wo sie selber es doch viel schlimmer haben.

» Gerbera » Beiträge: 11335 » Talkpoints: 53,75 » Auszeichnung für 11000 Beiträge



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