Einführung von sozialem Pflichtdienst sinnvoll?
Momentan wird die Einführung von einem sozialen Pflichtdienst in der Politik diskutiert und dieser Vorschlag scheint viel Anklang zu bekommen. So neu ist dieses Modell ja auch nicht, denn mit dem mittlerweile abgeschafften Zivildienst, gab es so etwas schon mal. Was haltet ihr von diesem Vorstoß? Fändet ihr so einen sozialen Pflichtdienst sinnvoll und wo würdet ihr die Vorteile und wo die eventuellen Nachteile sehen?
Ich halte gar nichts davon, zumindest halte ich nichts von derartigen Überlegungen in dieser Zeit. Die Jugend hat eh schon unter den Coronamaßnahmen am meisten gelitten und jetzt sollen sie noch die verfehlte Politik der letzten Jahrzehnte im sozialen Bereich zurechtbiegen.
Grundsätzlich fände ich es überlegenswert, dass jeder im Laufe seines Lebens wo etwas macht. Das könnte man zum Beispiel auch als Rentner tun. Irgendwelche Modelle kann man sich überlegen, dass man nicht unbegrenzt abwartet, bis man dann stirbt. Die Frage ist auch, wie man diesen sozialen Dienst bezahlt. Heutzutage gibt es zwar so einige junge Leute, die Bufdi machen, aber das muss man sich auch leisten können.
Also grundsätzlich gut, aber nicht unbedingt direkt nach der Schule, sondern irgendwann im Leben. Es sollte auch Möglichkeiten geben, diesen Dienst auf längere Zeiten zu strecken, wie es zum Beispiel früher für Zivis im Technischen Hilfsdienst war. Aber jetzt die Diskussion anzustoßen, wie es Steinmeier gemacht hat, finde ich ziemlich daneben.
Tatsächlich hätte die Einführung eines sozialen Pflichtjahres einige Vorteile: Einerseits bekommen Menschen, welche noch nicht genau wissen, welchen Beruf sie später ausüben möchten die Möglichkeit, einen Beruf im sozialen Bereich kennen zu lernen (beispielsweise den Beruf des Kranken- und Gesundheitspflegers). Gerade jungen Menschen bietet ein soziales Jahr eine berufliche Orientierung und eventuell auch Perspektive. Zudem könnte ich mir vorstellen, dass die Politik dadurch versuchen möchte, dadurch junge Menschen zu motivieren, später einen Pflegeberuf auszuüben. So soll möglicherweise der Pflegenotstand ausgeglichen werden.
Alles schön und gut, doch die Sache hat auch einen gravierenden Nachteil: Ein Soziales Jahr ist meiner Meinung nach eine Tätigkeit, zu der ein Mensch sich freiwillig entscheidet. Die Politik möchte das soziale Jahr zum Pflichtjahr machen.
Ja, ich selbst bin ebenfalls an der Ausübung eines freiwilligen sozialen Jahres interessiert. Jedoch möchte ich mir nicht von der Politik vorschreiben lassen, dieses zu leisten. Zusammenfassend bin ich der Meinung, dass jeder Mensch selbst entscheiden sollte, ob er ein soziales Jahr leisten möchte oder nicht. Daher gibt es auch das freiwillige soziale Jahr (FSJ) und so sollte es auch bleiben.
Wenn ich ein soziales Jahr absolvieren würde, würde ich zumindest gern selbst entscheiden wollen, wo und wie ich dieses Jahr absolviere. Es hat ja niemand was davon, wenn die Leute irgendwo zwangszugeteilt werden und dann Tätigkeiten machen müssen, für die sie weder geeignet noch motiviert sind. Was mich betrifft, könnte ich mir beispielsweise vorstellen, eine Tätigkeit im Küstenschutz an Nord- oder Ostsee zu machen, da mich der Norden und das Meer ohnehin faszinieren.
Gelegentlich war ja diskutiert worden, dass jeder so einen Pflichtdienst absolvieren sollte, egal welchen Alters. Da frage ich mich dann, wie das genau funktionieren soll, z.B. bei Menschen, die mitten im Beruf sind. Gibt es dann eine einjährige Befreiung vom Beruf? Wann genau wird man dann einberufen? Zumindest müsste man das irgendwie gestaffelt machen, sonst sind auf einmal sehr viele Leute gleichzeitig weg und die Abteilungen bleiben verwaist. Und was Rentner betrifft: sobald man anfängt, gebrechlich zu werden, stelle ich mir viele Pflichtdienste schwierig vor. Da bräuchte man dann spezielle Dienste, die auch angepasst an die verringerte Leistungsfähigkeit absolvieren kann.
Ich halte es für inhärent unfair, den jungen Leuten, nur weil ihre Leberwerte und Bandscheiben noch besser sind als im Rest unserer überalterten Gesellschaft, unbeliebte, gesellschaftlich wenig anerkannte und anstrengende Aufgaben zwangsweise aufzudrücken.
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sich irgend jemand da draußen denkt: Hey, ich wurde gegen meinen Willen für ein ganzes fucking Jahr, das ich auch nicht wiederbekomme, in einen Scheiß-Sozialjob gedrängt und musste mich gegen einen Hungerlohn mit anderer Leute unerzogenen Bälgern herumschlagen. Dabei habe ich festgestellt, dass Erzieher mein absoluter Traumjob ist! Das ist Augenwischerei zu glauben, dass die "jungen Leute" derart naiv und idealistisch sind.
Wenn Pflichtdienst, dann für alle. Bei den "jungen Leuten" würde es schließlich auch nicht interessieren, ob sie schon andere Verpflichtungen haben oder ob ihre Familie sie durchfüttern kann, wenn sie ein Jahr lang definitiv nicht genug für ein unabhängiges Leben verdienen. Aber welcher Investmentbanker ließe sich schon dazu herab, auf einmal den "Dienst" an der Gemeinschaft über den Dienst am eigenen Geldbeutel zu stellen?
Gerbera hat geschrieben:Wenn Pflichtdienst, dann für alle.
Wie gesagt, wie würde so ein Pflichtdienst für alle organisiert werden? Immerhin würde er Menschen jeden Alters treffen, egal, in welcher beruflicher oder sonstiger Lebenssituation sie stecken. Soll es da einen Stichtag geben, ab dem das soziale Jahr für alle gestartet wird? Falls ja, wer ist zuerst dran? Soll es nach Alter gehen, nach dem Alphabet, nach Wohnort, nach Familienstand, nach Beruf, nach Befähigung? Und was für Pflichtdienste sollen diejenigen Menschen erledigen, die gesundheitlich nicht mehr für anstrengende Tätigkeiten in Frage kommen? Wird es also eine Musterung mit Eignungsstufen geben?
lascar hat geschrieben:Immerhin würde er Menschen jeden Alters treffen, egal, in welcher beruflicher oder sonstiger Lebenssituation sie stecken. Soll es da einen Stichtag geben, ab dem das soziale Jahr für alle gestartet wird?
So würde es eben - zumindest theoretisch - alle "jungen" Menschen völlig unabhängig von ihrer Lebenssituation treffen. Wo ist da der Unterschied? Und die Organisation wäre da auch auf einmal kein Problem.
Man geht eben von einer sorgen- und verantwortungsfreien, gesunden und leidlich wohlhabenden Mittelstands-Jugend aus, die sich auch mal ein Jahr lang nützlich machen kann, und die es in der Realität schlicht nicht gibt. Viele "junge" Menschen haben mehr Verantwortung als andere im soliden Mittelalter. Und auch physische Gesundheit und Robustheit ist kein Privileg der Leute unter 25.
Genauso gut könnte man sich fragen: Was passiert mit jungen Leuten, die Alleinverdiener für ihre Eltern und jüngeren Geschwister sind, sprich schon drei Knochenjobs haben? Die Familienmitglieder pflegen? Die generell den Laden am Laufen halten, weil Mutti säuft und Papa ein Vollversager ist? Die Rheuma haben oder irgendeinen Autoimmunscheiß?
Und umgekehrt wären dann andere Leute fein raus, nur weil sie schon mehr Runden um die Erde gefahren sind. Nicht jede*r Ü30, 40 oder 50 hat einen Stall voller Nachwuchs daheim, schon die ersten Alterszipperlein oder einen ach so wichtigen und verantwortungsvollen Job, dass man nicht mal ein Jahr auf seinen Hintern am Schreibtisch verzichten könnte. Aber da finden sich wieder die Ausreden zuhauf, die man den Leuten unterhalb eines willkürlich gewählten Alters nicht zugesteht.
Ich denke, dass man das irgendwie regeln könnte, auch während der beruflichen Phase. Es muss kein ganzes Jahr sein. Zur Zeit ist es ja auch so, dass - weniger planmäßig als es bei einem Pflichtdienst wäre -, Mitarbeiter ausfallen, wenn Nachwuchs kommt, sowohl Frauen als auch Männer.
Ich finde es aber auch wichtig, dass man nicht zu Tätigkeiten gezwungen werden darf. Es muss ein breites Angebot geben, nicht nur im sozialen Bereich, sondern zum Beispiel auch im Umwelt- oder Kulturbereich, so wie es beim Bundesfreiwilligendienst auch ist.
Übrigens, wenn man mit 65 in Rente geht, fängt man nicht an, gebrechlich zu werden . Die Rentner und Rentnerinnen in meinem Umfeld sind durchaus meistens noch sehr fit und betreuen zum Beispiel ihre Enkelkinder oder haben einen 450-Euro-Job in einem Supermarkt.
Nachdem festgestellt wurde, dass man billige Arbeitskräfte als Lückenbüßer für eine verfehlte Personalpolitik in bestimmten Branchen an Land ziehen muss und es die Ausländer als solche nicht mehr tun, fällt natürlich den Verantwortlichen für Sozialpolitik nichts Besseres ein, als auf den Ersatzdienst zu verweisen. Dieser war aber als Ersatz, wie es der Name schon sagt, für den Wehrdienst anzusehen. Und eine Wehrpflicht ist ja abgeschafft, oder besser ausgedrückt "ausgesetzt" worden.
Im Umkehrschluss bedeutete die Einführung eines Pflichtdienstes, die Rückkehr zur Wehrpflicht. Anders wäre eine Wehrgerechtigkeit nicht zu gewährleisten. Was mich ganz massiv stört an der Diskussion, ist wieder der Gebrauch von Begriffen wie "Pflicht" und dieser "freiwillige Zwang" und die damit verbundenen Unlustgefühle.
Ich dachte, nach Zusammenbruch der DDR gehörten "patriotische Dienste", Fähnchenschwenken, Hurrabrüllen, Pflichtmitgliedschaft zu Jugendorganisationen, "Junge Pioniere", und im Westen etwas Vergleichbares wie die Wehrpflicht mit Ersatzdienstmöglichkeit endgültig der Vergangenheit an. Dabei gibt es schon jahrzehntelang soziale Dienste, wie das "Freiwillige soziale Jahr", die völlig unbeachtet geblieben sind in der öffentlichen Diskussion. Leider werden auch da die Hilfsbereitschaft und die edlen Ziele dadurch unterminiert, weil keinerlei Beiträge zu Sozialversicherung und Rentenversicherungen erfolgten. Dass das dann an der Rente später fehlt, wird etlichen Leuten dann erst klar, wenn sie ins Rentenalter kommen. Also ein doppelter Betrug.
Erstens sind Leute aus dem ersten Arbeitsmarkt heraus, in Zeiten der Hochkonjunktur machen sie den anderen Arbeitskräften keine Konkurrenz, zweitens braucht der Staat keinerlei, oder wesentlich weniger Sozialleistungen zu erbringen. Das Ganze bekommt dann das Mäntelchen der "Freiwilligkeit" und der "ethischen Komponente".
Wenn schon ein sozialer Pflichtdienst, dann verbunden mit einer sozialen Absicherung, die der für normale Arbeitnehmer in nichts nachsteht. So weit ich weiß, durften Teilnehmer am "Freiwilligen sozialen Jahr" noch nicht einmal zum Arzt ihrer Wahl gehen, oder waren überhaupt nicht krankenversichert.
Jedenfalls kenne ich viele Leute, die sehr enttäuscht waren und sogar dann, wenn sie den Dienst vorzeitig verlassen wollten, die volle Härte der Ungerechtigkeit zu spüren bekamen. Von "Freiwilligkeit" ist dann plötzlich keine Rede mehr. Für mich ist das Ganze ein riesiges Täuschungsmanöver.
Gerbera hat geschrieben:So würde es eben - zumindest theoretisch - alle "jungen" Menschen völlig unabhängig von ihrer Lebenssituation treffen. Wo ist da der Unterschied? .
Ich wiederum finde es durchaus erstaunlich, dass hier so gar kein Unterschied erkennbar zu sein scheint, obwohl sich hier wesentlich mehr mögliche Lebenssituationen, Gesundheitszustände, Familienumstände etc. ergeben, als wenn man nur eine bestimmte Alterskohorte heranzieht.
Im übrigen: falls du annimmst, dass ich für mich persönlich Ausreden formulieren würde: dies ist mitnichten der Fall. Ich würde sogar sehr gern eine Weile eine verordnete Auszeit vom Beruf bekommen und würde mich darüber freuen, sofern es sich nicht um eine Tätigkeit handelt, die mir so gar nicht liegen würde.
Wahrscheinlich würde ich mich freiwillig melden, um möglichst bald die Gelegenheit zu haben, das Pflichtjahr zu absolvieren. Aber andererseits versuche ich mich dem Thema eher objektiv zu nähern, und da ergeben sich eben doch Unterschiede im Vergleich zu einem Pflichtjahr "nur" für junge Menschen.
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