Bücher von Opfern nicht überall lesen?
Ich lese sehr gerne Bücher, die von Opfern geschrieben sind, also Leuten, denen etwas Schlimmes passiert ist und die ihr Leben dann wieder in den Griff bekommen müssen oder die dadurch das ganze Leben geprägt sind. Mich interessiert der psychische Aspekt bei solchen Büchern. Nun wurde ich vor ein paar Jahren mal von einer älteren Frau angesprochen, dass ich solche Bücher doch nicht in der Öffentlichkeit lesen kann.
Ehrlich gesagt habe ich mir dazu auch nie Gedanken gemacht, weil es für mich ganz normale Bücher sind. Findet ihr, dass man solche Bücher nicht öffentlich lesen sollte? Meiner Meinung nach ist da ja auch immer ein gewisser aufklärender Aspekt dabei und deswegen sollte man solche Bücher auch nicht in der stillen Kammer zu Hause lesen, außerdem sehe ich nicht ein mich verstecken zu müssen, weil ich ein Buch lesen möchte. Würdet ihr jemanden auf ein Buch ansprechen, was die Person liest?
Ich kann mir die beschriebene Situation gar nicht vorstellen, denn zuerst muss man sich das Cover von dem Buch anschauen und wissen, dass es sich um so eine Opfer-Biographie handelt. Nicht jede Überschrift ist eindeutig, natürlich gibt es auch ein Buch von Natascha Kampusch, auf welchem ihr Gesicht ganz groß abgebildet ist.
Von Henrike Dielen gibt es ein Buch namens "Der entführte Traum", wobei die Überschrift nicht aussagekräftig ist und es sich auch um ein Roman handeln kann. Bei dem Buch "Wir Kinder von Bergen-Belsen" kann man sich es denken, wenn man weiß, dass Bergen-Belsen Konzentrationslager in Deutschland war.
Grundsätzlich geht es niemanden was an, welche Bücher oder Zeitschriften man in der Öffentlichkeit liest.
Mich irritiert "inspiration porn" ja auch immer irgendwie. Ich kann es noch nachvollziehen, dass es für die Autoren hilfreich sein kann über ihre Erlebnisse zu schreiben. Für die Verarbeitung kann es sicher auch gut sein wenn man durch das Schreiben eine gewisse Struktur in seine Erlebnisse bekommt, denn die Struktur braucht man ja wenn man ein Buch schreiben möchte.
Aber die Motivation der Leser entzieht sich mir total. Ich kann diesem voyeuristischen Aspekt nichts abgewinnen, der bei dem Einblick in ein anderes Leben immer eine Rolle spielt. Und dieses "anderen ging es ja viel schlechter als mir und die haben es auch geschafft" Denken, das dem ganzen Genre seinen Spitznamen gegeben hat, ist mir auch fremd. Wenn mich "psychische Aspekte" interessieren würden, würde ich mir Fachliteratur kaufen.
Trotzdem ist das nun keine Literatur mit der man sich irgendwie verstecken muss, finde ich. Wenn ich mit einem Fantasy oder Science Fiction Roman im Café sitze wird sich der ein oder andere sicher auch denken "warum ließt die so einen Schrott?". Geschmäcker sind eben verschieden.
Wie cloudy habe ich auch ein Problem mit dem ganzen Betroffenheits-Schrott, wie ich ihn auf gut deutsch nenne. Ich habe natürlich auch die eine oder andere Biographie eines Holocaust-Überlebenden gelesen, weil es hier schließlich um nach wie vor aktuelle historische, kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge geht. Und ich verstehe auch das Bedürfnis, seine Erfahrungen nach einem Schicksalsschlag schreibend zu verarbeiten bzw. die Erfahrungen anderer Betroffener zu teilen, wenn es einen selber erwischt hat.
Aber einfach so aus Spaß an der Freude befasse ich mich eigentlich nicht mit dem Schlimmen, das andere Leute erlebt haben. Natürlich kann man sich so auch vor Augen führen, wie gut man es doch selber hat, weil man weder Krebs noch Magersucht (oder was auch immer) am eigenen Leib erfahren musste, aber das empfinde ich schon als ein bisschen billig. Aber dennoch würde ich mich nie erdreisten, jemand anderen in der Öffentlichkeit über die Wahl seines Lesestoffs ins Verhör zu nehmen, solange derjenige nicht laut und szenisch vorliest.
Ich selber lese schließlich auch historische Romane und Fantasyschinken von mehr als fragwürdigem Geschmack, und würde es auch nicht zu schätzen wissen, wenn sich jemand darüber aufregt, dass ich meinen Intellekt an magische Piratenvampire verschwende, die gegen magische Zombiewikinger in die Schlacht ziehen (sehr unterhaltsam übrigens!). Und mir ist auch noch kein Buchcover begegnet, welches so explizit war, dass man Kindern die Augen zuhalten oder unangenehme Fragen über den Holocaust beantworten müsste.
Ich lese jedes Buch in der Öffentlichkeit, das ich auch im stillen Rahmen zuhause lese und würde es als absolut lächerlich empfinden, wenn mir das jemand verbieten wollte. Auch die Satanische Bibel, die nebenbei gesagt inhaltlich harmlos ist, habe ich im Park gelesen. Gesagt hat keiner etwas, aber manche Passanten schauen einen schon komisch an und tuscheln. Was soll´s, die müssen das Buch ja auch nicht lesen. Wo kommen wir aber hin, wenn man bestimmte Bücher in der Öffentlichkeit verbietet?
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