Betroffene sofort nach Katastrophe interviewen

vom 14.07.2016, 17:40 Uhr

Immer wieder wird in den Nachrichten von Ereignissen berichtet, die verheerende Folgen für einige Menschen haben. Ob das nun ein Bombenangriff oder ein Naturereignis ist. Ob der Betroffene dabei sein Hab und Gut verloren hat oder sogar seine Kinder. Aber oft genug werden diese Betroffenen dann praktisch fünf Minuten nach diesem Ereignis von Nachrichtenjournalisten interviewt.

Ich denke da beispielsweise an eine Frau in der Ukraine, die verzweifelt in den Trümmern ihres Hauses stand. Sie und ihre Familie haben den Bombenangriff überlebt, aber sie wussten nicht wohin und ihr ganzer Besitz war die Kleidung, die sie gerade anhatten. Oder ein Mann, der nach dem Zugunglück in Italien auf der Suche nach seiner Schwägerin war, ohne zu wissen, ob sie tot oder verletzt ist. Man konnte mindestens fünf Mikrophone sehen, die sein sorgenvolles Gesicht umrahmten.

Dabei frage ich mich, was diese Interviews selbst noch für Folgen haben werden. Die Menschen sind in dem Moment in einem hochemotionalen Zustand, manchmal in totaler Verzweiflung oder sogar im Schockzustand. Im Grunde ist es eine hanebüchene Frechheit, sie in dieser Situation zu interviewen. Auch wenn die Interviews wahrscheinlich meist unter einer Minute dauern. Mir tun diese Menschen immer sehr leid und oft krampft mein Herz richtig zusammen angesichts ihres Schmerzes und dass sie dabei noch so belästigt werden macht mich wütend.

Andererseits könnte es aber auch gerade in diesem Moment gut sein, dass sie darüber reden. Dass sie nicht in eine Schockstarre verfallen. Psychologen warten ja auch nicht, bis sich alles gesetzt hat. Also sozusagen psychologische Erste Hilfe. Nur sind Nachrichtenreporter natürlich bei weitem keine Psychologen und rennen gleich zum Nächsten, von dem sie eine aufregendere Story erwarten, sprich, dass derjenige mehr verloren hat.

Wie seht ihr das? Glaubt ihr, dass die da großen emotionalen Schaden anrichten? Oder spielt diese eine Minute keine Rolle, werden sie sich eh nicht daran erinnern? Oder könnte es sogar hilfreich sein? Was empfindet ihr, wenn solche sehr verzweifelten Menschen noch an Ort und Stelle in die Kamera weinen?

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» Bienenkönigin » Beiträge: 9448 » Talkpoints: 19,93 » Auszeichnung für 9000 Beiträge



Wenn man solche Interviews im Verlauf nach einer Katastrophe verfolgt, fällt mir eher auf, dass die Interviews direkt nach der Katastrophe sogar oft ruhiger sind, als wenn der erste Schockzustand schon abgeklungen ist. Wenn die Menschen erst mal ein paar Tage Zeit hatten um gewahr zu werden, wie schlimm das alles eigentlich ist, sind sie oft noch emotionaler. Von daher weiß ich nicht, zu welchem Zeitpunkt ein Interview schlimmer ist.

Aber jetzt gar nicht über solche Vorfälle zu berichten ist vielleicht auch keine Lösung, denn wenn so ein Unglück nicht in den Medien beachtet wird, fließen auch keine Hilfsgelder und so weiter. Von daher steht da schon die Frage im Raum was schlimmer ist. Kurz leiden, weil das Interview zusätzlich schmerzt oder das Leid ersparen und dafür auf Hilfsgüter verzichten.

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» trüffelsucher » Beiträge: 12446 » Talkpoints: 3,92 » Auszeichnung für 12000 Beiträge


trüffelsucher hat geschrieben:Aber jetzt gar nicht über solche Vorfälle zu berichten ist vielleicht auch keine Lösung, denn wenn so ein Unglück nicht in den Medien beachtet wird, fließen auch keine Hilfsgelder und so weiter. Von daher steht da schon die Frage im Raum was schlimmer ist. Kurz leiden, weil das Interview zusätzlich schmerzt oder das Leid ersparen und dafür auf Hilfsgüter verzichten.

Naja, es gibt ja noch einen Mittelweg zwischen gar nicht und Tränen in Großaufnahme. Es stimmt schon, dass solche Bilder und Gefühlsausbrüche vor laufender Kamera natürlich die Aufmerksamkeit fesseln und Mitleid schüren. Leider kann man es daher wohl gar nicht mehr lassen. Da hast du Recht.

Aber das ist doch nur die Folge von solchen Bildern. Dass wir nur noch spendenbereit sind, wenn wir möglichst emotional angesprochen werden. Dass die nackten Zahlen nicht mehr ausreichen, die ja in Wahrheit viel mehr das Ausmaß der Katastrophe darstellen als ein weinendes Individuum.

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» Bienenkönigin » Beiträge: 9448 » Talkpoints: 19,93 » Auszeichnung für 9000 Beiträge



Auf mich wirkt das auch immer ziemlich sensationsbesessen, wenn man den Betroffenen nicht mal Zeit zum Durchatmen gibt und sie schon mit Fragen bombardiert. Vielleicht steckt aber auch so viel Kalkül dahinter, weil man so die Zuschauer leichter dahin gehend manipulieren kann, Geld oder Güter zu spenden oder vor Ort selbst helfen zu wollen. Hilfe ist sicherlich nicht verkehrt, versteht mich nicht falsch. Ich finde es gut, wenn man sich gegenseitig hilft, wenn etwas schlimmes passiert ist. Aber wenn dann die ganze Situation viel viel dramatischer und schlimmer dargestellt wird, als sie eigentlich war, finde ich das nicht mehr in Ordnung.

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» Täubchen » Beiträge: 33305 » Talkpoints: -1,02 » Auszeichnung für 33000 Beiträge



Ich bin in dieser Hinsicht hoffnungslos altmodisch und immer noch der Ansicht, dass es die Aufgabe von seriösem Journalismus sein sollte, objektive Fakten und Hintergründe zu liefern. Dazu gehört es für mich absolut nicht, möglichst als erstes irgendwelche Bilder und dazugehörige Spekulationen zu liefern. Auch Interviews mit geschockten Zivilisten gefühlt zehn Minuten nach einer Katastrophe sind für mich kein ernst zu nehmender Journalismus, weil diese "Eindrücke" gar keinen zusätzlichen Informationswert haben können.

Natürlich tun mir die Menschen auch leid, wenn sie offensichtlich völlig neben sich stehen, und die Geier von Funk und Fernsehen fallen über sie her. Aber vor allem ärgere ich mich darüber, dass es hier brüllend offensichtlich wird, dass hier keine Informationen im Vordergrund stehen, sondern nur Gafferei und Sensationsgeilheit. Der Zuschauer erfährt ja nichts, wenn Herr oder Frau X tränenüberströmt in die Kamera japsen, dass "es ganz schrecklich war". Ach nee, ein Zugunglück mit 100 Toten war schrecklich? Aha.

Mir wäre es daher lieber, wenn man sich im akuten Notfall erst einmal auf die gesicherten Fakten beschränken würde, so wie sie sich entwickeln. Auf Einzelschicksale kann man natürlich immer noch eingehen, aber dann bitte in Form einer gut recherchierten und respektvollen Berichterstattung und nicht nur 30 Sekunden Schnaufen und Schluchzen. Andererseits weiß ich natürlich, dass es hier letzten Endes gar nicht darum geht, Informationen zu liefern, sondern damit, mit Emotionen Geld zu machen, um Quoten zu sichern.

» Gerbera » Beiträge: 11317 » Talkpoints: 49,13 » Auszeichnung für 11000 Beiträge


Ich denke, dass die meisten Nachrichtensender oder Fernsehsender die Leute direkt nach den Katastrophen interviewen, damit es schrecklicher wirkt. Die Leute sind, je nachdem, was für eine Katastrophe es ist, sehr geschockt und stehen neben sich. Man kann ihnen meist aus dem Gesicht ablesen, dass sie total neben sich stehen und grade etwas sehr schlimmes erlebt haben. Dies entspricht genau dem Geschmack der lüsternen Geier, die vor dem Fernseher sitzen und sich an dem Elend mancher Menschen erfreuen. Sie wollen sehen, wie geschockt die Menschen sind und wie schlecht es ihnen geht, sodass sie das Gefühl haben als erstes von der Katastrophe erfahren zu haben.

Wenn die Kameraleute und Fernsehsender die betroffenen Leute allerdings nicht sofort interviewen würden, dann wäre es wahrscheinlich so, dass die Leute nicht mehr ganz so geschockt sind, wie die Fernsehsender sie gerne hätten. Dann könnten sich die Leute schon wieder beruhigt haben und könnten abgeklärt über die Situation und das, was geschehen ist, berichten. Dann wären sie allerdings nicht mehr so hysterisch und das ist es ja, was die meisten Einschaltquoten bringt.

Ich kann mir vorstellen, dass so was schon ein kleiner Schaden entsteht. Ich glaube eher, dass dadurch medizinische Hilfe durchaus verzögert werden kann, dies muss nicht immer die Versorgung von körperlichen Verletzungen sein, sondern kann durchaus auch seelische Probleme betreffen. Die Leute brauchen meist in erster Linie eine psychologische Betreuung und kein Interview, wo sie nicht im vollen Besitz ihrer geistigen Fähigkeiten sind. Die Interviewten werden später wahrscheinlich selbst die Hände über dem Kopf zusammen schlagen, wenn sie sehen, was sie gesagt haben und sich dafür schämen.

» Hufeisen » Beiträge: 6056 » Talkpoints: 0,00 » Auszeichnung für 6000 Beiträge


So etwas kurbelt sicherlich die Einschaltquoten an und ist daher ein gefundenes Fressen für die Reporter. Ich finde es auch schlimm, wenn man einen betroffenen Menschen in so einer Situation dann interviewt. Ich denke, dass die Menschen einfach unter Schock stehen und deswegen mit den Reportern sprechen und gar nicht recht wissen, was ihnen da gerade passiert oder wo es eben ausgestrahlt wird, was sie sagen.

Ich denke, dass sich manche dieser Betroffenen dann hinterher sicher auch ärgern, dass sie den Reportern in der Situation so auf den Leim gegangen sind. Und vielleicht auch, weil diese ihre schlimme Lage so ausgenutzt haben. Ich denke aber nicht unbedingt, dass es ihrem seelischen Zustand noch weiter schaden wird. Aber das ist sicher auch von Mensch zu Mensch verschieden.

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» Nelchen » Beiträge: 32238 » Talkpoints: -0,25 » Auszeichnung für 32000 Beiträge



Aber genau das ist es doch, was die Zuschauer vor dem Fernsehen sehen wollen. Sie wollen nach einer solchen Katastrophe direkt die Menschen sehen die alles verloren haben, entweder das Haus, oder einen Familienangehörigen. Das ist "Reality" TV und steigert auch die Einschaltquoten. In jedem von uns steckt ein entsprechender kleiner Gaffer und möchte seine Sensationsgier befriedigen. Am besten direkt mit vor Ort zu sein und alles direkt zu erleben, möglichst nah dran zu sein. Das erreicht man mit nüchterner Berichterstattung auf Fakten nicht, das geht eben nur über solche Interviews.

Ich finde es schrecklich was dort teilweise gemacht wird. Dort werden die Verletzten direkt auf der Trage angesprochen, die Arbeit der Rettungskräfte behindert nur damit man entsprechende Bilder und Interviews bekommt. Für die Zuschauer ist es sicherlich "nett" aber für alle die am Einsatz beteiligt sind ist das nur eine weitere zusätzliche Belastung mit der man fertig werden muss.

Ich kenne es vor allem aus dem Bereich des Rettungsdienstes. Oftmals genug musste ich solche Reporter verweisen und auch anbrüllen, damit sie mich meine Arbeit machen lassen, nicht im Weg stehen und auch nicht hinterher auf den Rettungswagen klettern um die Bilder aus dem inneren hinterher ins Fernsehen oder in die Zeitung zu bringen. Die Scham kennt dabei keine Grenzen und so gab es schon genug Idioten die mit ihrem Handy, der Kamera oder auch dem Fotoapparat hinten auf meinem Trittbrett standen und Videos gemacht haben von komplett entblößten Verletzten die wir gerade versucht haben zu reanimieren.

Der Schaden entsteht nicht nur bei den Betroffenen selbst, sondern auch bei deren Angehörigen die das ganze dann im Fernsehen sich anschauen müssen, den Rettungskräften die eigentlich versuchen die Leute so gut es geht abzuschirmen damit sie selbst erst einmal zur Ruhe kommen und das geschehene Begreifen und auch verarbeiten können. Manchen hilft das jedoch direkt darüber reden zu können, bei anderen ist das erst der Auslöser damit sie hinterher in ein noch tiefere Loch fallen.

Denn die neugierigen Nachfragen der Reporter erledigen ihr übriges dazu wie auch die Kommentare von anderen Nutzern, die solche Berichte direkt auf den sozialen Medien kommentieren müssen. Dort entstehen auch oftmals Kommentare ohne Hirn oder ein Mindestmaß an Anstand, wo ich mich wirklich frage wie diese Menschen überleben können. Ich brauche doch nicht kommentieren, dass jemand der gerade seine komplette Familie verloren hat doch noch selbst am Leben ist. Oder jemand der gerade seine Kinder verloren hat wie bei den Flutkatastrophen noch die Frau vorhanden ist, mit der man einfach neue zeugen kann. Da hört es bei mir wirklich auf.

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» Sorae » Beiträge: 19435 » Talkpoints: 1,29 » Auszeichnung für 19000 Beiträge


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