Berufliche Neuorientierung zur Lebensmitte - ein Trend?
Ich habe im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit vor Kurzem die Bewerberprofile für eine Stelle bei uns durchgearbeitet. Da ist mir aufgefallen, dass es einige Menschen gibt, die plötzlich (aus welchen Gründen auch immer) beruflich eine ganz neue Richtung einschlagen wollen. Die meisten Menschen hierbei waren in einer Altersgruppe zwischen 35 und 40.
Meine Schwägerin zum Beispiel hat diesen Weg auch eingeschlagen. Sie war seit Ihrer Lehrzeit als Sachbearbeiterin in der Stadtverwaltung tätig und jetzt macht sie seit gut einem Jahr eine Ausbildung zur Hebamme. Sie ist jetzt 38. Und ich gebe zu, dass auch ich schon über eine berufliche Neuorientierung nachgedacht hatte. Ich bin auch im kaufmännischen Bereich unterwegs und hatte überlegt, ob ich im Bereich Kinderpflege was mache. Leider waren da die Hürden organisatorisch und finanziell zu groß.
Wie gesagt höre und lese ich immer öfter, das besonders Frauen zur Lebensmitte noch einmal komplett neue berufliche Wege einschlagen. Meint ihr da steckt mehr dahinter? Ich könnte mir vorstellen, dass bei vielen das Thema Selbstverwirklichung eine große Rolle spielt.
Bei mir war der Grund eher pragmatisch. Ich habe sehr lange Suchen müssen, bis ich jetzt einen neuen Job gefunden hab und dachte, dass Kinderpflegerinnen viel öfter gesucht werden und das Ganze auch zukunftssicherer wäre. Jetzt habe ich meinen "Traumjob" doch im Bürobereich gefunden und hoffe, er bleibt es auch über meine Befristung hinaus.
Ich denke weniger, dass es sich um einen "Trend" handelt, sondern eher um eine generelle Veränderung der Arbeitswelt und der Einstellung vieler Menschen zu ihrem Beruf. Aus Erzählungen meiner Eltern weiß ich, dass es "früher", also vor ein paar Jahrzehnten, gang und gäbe war, irgendwo als Lehrling einzusteigen und 45 Jahre später im gleichen Unternehmen in Rente zu gehen, und von dieser Rente auch leben zu können. Und dass Frauen Vollzeit berufstätig sind, sorgt auch heute noch oft genug für Erstaunen.
Aber die Zeiten haben sich eben geändert. Mittlerweile wird in vielen Branchen wieder händeringend gesucht, aber viele ArbeitnehmerInnen haben in der Zwischenzeit auch die Erfahrung gemacht, dass sie von heute auf morgen auf der Straße stehen, dass ihre ganze Erfahrung keinen Unterschied macht, wenn die Branche einknickt und dass "Loyalität" zu einem bestimmten Arbeitgeber keinen feuchten Händedruck wert ist, wenn der im Zuge der Globalisierung auf den Philippinen produzieren lässt.
Von daher sehe ich eigentlich nicht, dass nur "Frauen in der Lebensmitte" sich beruflich neu orientieren, sondern dass es mehr und mehr selbstverständlich wird, unterschiedliche Jobs im Lauf des Lebens zu haben und nicht mehr 40 Jahre lang an der gleichen Supermarktkasse oder Drehbank Dienst zu tun. Die Menschen passen sich nur den veränderten wirtschaftlichen Gegebenheiten an.
Schließlich muss man ja auch zeigen, wie "flexibel" man ist und wie ernst man das "lebenslange Lernen" nimmt, welches den Arbeitnehmern schon seit Jahrzehnten gepredigt wird. Außerdem kann man(n) mit einem Einkommen schon lange keine Familie mehr ernähren, wenn diese sich einen gewissen Lebensstandard wünscht, weswegen die Hausfrauenrolle auch nicht gerade attraktiver wird.
Man muss sich heutzutage eben auch nicht ewig in einem Job quälen, nicht ausnutzen lassen und man darf auch neue Dinge starten. Das ist doch schon lange nicht mehr so, dass man immer alles sein Leben lang gleich machen muss und dann möglichst wenig Jobs hat. Heutzutage ist es auch okay sich auszuprobieren. Ich finde es absolut in Ordnung, wenn man sich auch mal umentscheidet und ausprobiert. Vor allem ist man dann auch meistens nicht mehr Mutter oder Vater von einem kleinen Kind und da geht das schon. In meinem Umfeld konnte ich diesen Trend aber nicht beobachten.
Ich glaube auch, dass es heutzutage schon fast "normal" ist, seinen Job zu wechseln, auch wenn der dann in eine ganz andere Richtung geht. Auch in meinem Freundeskreis kenne ich einige, die sich beruflich sehr stark geändert haben.
Besonders mutig empfand ich die Entscheidung einer Freundin. Sie hatte einen äußerst gut bezahlten Job in einem Unternehmen, wo man nicht so leicht hineinkommt. Sie war dort vom Betriebsklima und von der Bezahlung her auch mehr als nur zufrieden. Alles hätte eigentlich gepasst. Für diesen Job hat sie auch mehrere Jahre studiert, war also alles wirklich nicht so einfach.
Dennoch kam sie eines Tages drauf, dass ihr die Tätigkeit eigentlich gar nicht so gefällt und sie sich komplett neu orientieren möchte. Als sie mir das erzählt hat, habe ich anfangs die Welt auch nicht mehr verstanden. Sie hat dann auch bezüglich Ausbildung wieder ganz vorne angefangen und hat sich selbständig gemacht. Der Anfang war auch da sicher sehr hart, aber mittlerweile ist sie auch in diesem neuen Bereich sehr erfolgreich und sie bereut ihren Schritt in keinster Weise.
Da du schreibst, dass es zum größeren Teil Frauen sind, die sich beruflich komplett neu orientieren, vermute ich fast, dass sie als Schulabgänger in einen Beruf gedrängt worden sind. Sei es durch Lehrer, Berufsberater oder halt auch die Eltern. Noch heute kann man das teilweise erleben, dass sehr autoritäre Eltern - meist Väter - der berufliche Werdegang auf diktiert wird.
Als es bei damals, dass war so 1987/88, hieß, dass ich eine Berufsausbildung mit Abitur machen will, ging mein Onkel fast durch die Decke. Was das sollte, Mädchen heiraten bald und bekommen Kinder, die brauchen kein Abitur und kein Studium. Nun gut, studiert habe ich dann doch nicht, aber Kinder kamen bei mir erst knapp 10 Jahre nach dem bestandenen Abi und die Hochzeit noch ein Stück später.
Jetzt bin 46 Jahre, habe Anfang letzten Jahres einen kompletten beruflichen Neustart hingelegt und bin jeden Tag froh, dass sich die Möglichkeit ergeben hatte ein Ladengeschäft zu kaufen und betreiben. Sicherlich hat die Arbeit als Dozentin auch Spaß gemacht. Aber es stand immer die Frage im Raum, wie es weiter geht, wenn ein Kurs beendet ist.
Ich sehe es also nicht als Trend an, der gerade in Mode ist, sondern dass Frauen sich endlich trauen Entscheidungen über weiteres berufliches Leben zu treffen und sich nicht den Wünschen oder auch Anordnungen der Familie beugen.
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