Bei Geschwistern mehr Tabu-Themen als bei Freunden?

Ich habe zu meinen Geschwistern zwar kein schlechtes Verhältnis, aber unsere Gespräche bei den eher seltenen Treffen drehen sich nur um oberflächliche oder neutrale Themen. Ich könnte mit meinen Geschwistern nie über Sexualität, Gefühle oder bestimmte Kindheitserinnerungen reden. Jetzt ist noch das Tabuthema Corona dazugekommen, weil es diesbezüglich sehr unterschiedliche Meinungen gibt.

Mit Freundinnen kann ich wesentlich intensiver über bestimmte Themen reden als mit meinen eigenen Geschwistern, wo anscheinend die stillschweigende Übereinkunft herrscht, an der Oberfläche zu bleiben. Anscheinend gibt es da vernarbte Wunden, die niemand aufbrechen will. Das ist für mich auch ganz in Ordnung so, sonst würden wir uns wahrscheinlich gar nicht mehr treffen.

Wie sieht das bei euren Geschwistern aus? Habt ihr ein vertrauensvolles Verhältnis? Könnt ihr mit ihnen besser über Dinge reden als mit Freunden? Oder ist es vielleicht sogar umgekehrt? Wenn ich mit meinen Geschwistern dann doch mal auf bestimmte Themen komme, kommt es mir und ihnen so vor, als hätten wir völlig verschiedene Eltern gehabt, obwohl es doch dieselben waren.

In gewisser Weise ist der letzte Satz mit den verschiedenen Eltern auch zutreffend. Und nicht nur, weil man unterschiedliche Wahrnehmungen hat, sondern weil die Menschen sich ihren Kindern gegenüber auch teilweise extrem unterschiedlich verhalten, je nachdem, ob es ein Wunschkind war oder nicht, ob die Persönlichkeit des Kindes zur eigenen passt, wie das Verhältnis zum Erzeuger zu diesem Zeitpunkt war oder sich veränderte. Ob man selbst eine gute Schwangerschaft und Geburt hatte oder nicht. Ob es das älteste oder das jüngste Kind ist. Und so weiter, die Liste ist endlos.

Leider habe ich selbst keine Geschwister, betrachte daher aber Geschwisterbindungen mit umso mehr Neugier. Gerade bei unterschiedlichen Geschlechtern wird das Thema Sexualität oft ausgespart oder klein gehalten, meiner Meinung nach auch zu Recht. Mein Partner bekam auch rote Ohren, wenn seine Schwester mal mit solchen Themen früher anfing und empfand das als unangemessen distanzlos. Ich habe nur männliche Cousins und keine Brüder, aber kann daher fühlen, wie es sein könnte und würde mit meinen Cousins im Leben nicht über so etwas sprechen.

Ansonsten gibt es keine Bindung, die es nicht gibt. Aber im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass die von mir als Kind fabulierte, so harmonische Geschwisterbeziehung, wie man es aus Filmen oder Büchern kennt, dem prüfenden Blick im Verlauf des Lebens nicht standhalten konnte. Oft gibt es zu viel aufgeladene Vergangenheit und konträre Lebenswege, als dass man wirklich immer zueinander findet.

Wenn ich mir meine Onkel und Tanten so angucke und die alle miteinander vergleiche, kann man sich manchmal kaum vorstellen, dass sie aus demselben Haushalt stammten. Die Verhältnisse zueinander waren ganz unterschiedlich, manche Konstellationen sind zusammen in den Urlaub gefahren, aber ich könnte mir vorstellen, dass die eigenen, engsten Freundschaften doch noch mal von anderer Qualität gewesen sind.

Meine Brüder sind beide wesentlich älter als ich, dem einen bin ich gedanklich sehr ähnlich, dem anderen Bruder eher nicht so. Dennoch könnte ich mit beiden nicht über intime Sachen reden, da sind auch beide nicht so die Typen für und ich bin mir sehr sicher, dass das auch von den beiden so nicht gewollt ist. Mit Freunden ist das kein Problem, da werden solche Sachen besprochen und auch diskutiert, auch mal miteinander über gewisse Dinge gelacht. Das ist kein Problem. Ich denke aber auch, dass das auch viel mit dem Alter zu tun hat und wie man die Dinge dann eben so sieht.

Mit meinem Bruder kann ich mehr oder weniger über gar nichts reden. Wenn wir nicht angeblich dieselben Eltern und irgendwie eine Zeitlang im selben Haus gewohnt hätten, würden wir wohl kein einziges Wort miteinander reden, denn wir sind so absolut unterschiedlich, wie es nur geht. Und selbst wenn wir über Dinge aus der Kindheit reden, dann weiß der andere nicht einmal, was gemeint ist, kennt die Begebenheiten gar nicht. Ich denke, wenn man uns zusammen sieht, käme man auch nie darauf, dass wir verwandt sein sollen.

Das hat zum einen damit zu tun, dass unsere Eltern uns total unterschiedlich behandelt haben. Mein Vater war ein sehr dominanter Nazist, für den sein einziger Sohn sein Goldstück war. Mein Bruder konnte anstellen, was er wollte (vom Gymnasium fliegen, sitzenbleiben auf der Hauptschule, Abschluss und Gesellenprüfung so gerade eben mit Bedenken schaffen, mit dem ersten Handy eine Monatsrechnung von 3.000 DM haben!), er war Papas Sohn und sein ein und alles! Auf meinen Bruder ließ er nichts kommen!

Ich dagegen konnte machen, was ich wollte, ich war immer nur die Tochter, die nichts wert ist, nichts hinbekommt (Gymnasium ohne Sitzenbleiben, Abi mit einer Note im guten Durchschnitt, Studium mit zwei Staatsexamen). Ich beschreibe unser "Familien"-Leben immer, indem ich sage, die drei waren eine harmonische Familie und ich lebte mit ihnen irgendwie in einer WG und hatte dabei noch ihren Haushalt zu führen. Der war nämlich tatsächlich seit ich ca. 14 war ausschließlich meine Aufgabe.

Mein Bruder hatte dagegen keine Aufgaben im Haus. Er durfte spielen und sich vergnügen. Ich durfte das nur, wenn der Haushalt vorher fertig war. Meine Mutter und ich hatten auch nie eine Verbindung, sie hat mich auch eher wie eine Haushaltshilfe als eine Tochter behandelt, während mein Bruder ihr geliebter Sohn war. Über was also sollte ich mit meinem Bruder reden? Mit den Jahren hat sich herauskristallisiert, dass unsere Kindheit ein absolutes Tabu sein sollte, denn wir haben da keinerlei gemeinsame Erinnerungen oder Erfahrungen.

Da wir auch völlig unterschiedliche Bildung, Interessen oder Ansichten haben, finden wir auch sonst keinerlei Gesprächsthema. Falls wir mal telefonieren, beschränken sich unsere Themen also aufs Wetter. Das ist so ziemlich das einzige Thema, worüber wir uns konfliktfrei unterhalten können.