Behindertes Kind trotz Unfallgefahr klettern lassen?
Beim Thema Unfälle in einem anderen Thread fiel mir ein, dass wir in der Nachbarschaft vor vielen Jahren ein kontrovers diskutiertes Thema hatten, das ich auch hier gerne zur Diskussion stellen würde:
In unserer Nachbarschaft lebt ein Kind, heute fast 14 Jahre alt, das mit einer geringfügigen motorischen Behinderung geboren wurde. Trotz der stark erhöhten Unfallgefahr hat die Mutter das Kind nicht nur einfach klettern lassen, wo es wollte. Sie hat es sogar dazu animiert, über Baumstämme zu balancieren, auf Spielplätzen zu klettern und auch Rollschuhe auszuprobieren, mal mit Hilfestellung, mal ohne.
Viele hier waren damals entsetzt, weil auch zwei Mal der Krankenwagen vorfuhr, weil das Kind sich im normalen Haushaltsgeschehen durch Stürze so schwer verletzt hatte, dass es ärztliche Hilfe brauchte.
Die Argumentation der Mutter war folgende: Wenn sie ihr Kind nicht üben lasse, kann es die Behinderung nicht in den Griff bekommen. Dass es zu Unfällen komme, könne sie angesichts des Handicaps nicht verhindern. Sie könne aber durch die gezielte Förderung dazu beitragen, dass das Kind im Umgang mit seiner motorischen Besonderheit immer besser umgehen lerne und das Leben damit für das Kind weniger gefährlich würde.
Manch einer war geschockt ob dieser Haltung und war der Meinung, man dürfe das Kind nicht auch noch dazu ermutigen, sich in Gefahr zu begeben. Meiner Meinung nach ist das Konzept der Mutter im Laufe der Jahre erfolgreich gewesen. Man sieht das Handicap als Laie überhaupt nicht mehr und das Kind hat ein fast normales Leben.
Wie seht ihr das? Hättet ihr die Nerven gehabt, das Kind klettern und üben zu lassen, auch wenn ihr gewusst hättet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es schief geht, gegenüber einem gesunden Kind stark erhöht ist?
Welches Kind nimmt man denn als Vergleichskind um zu sagen, dass das Risiko erhöht ist? Es gibt doch durchaus auch gesunde Kinder ohne motorische Einschränkung, die ständig verunfallen. Entweder, weil sie sich überschätzen oder weil sie extrem ehrgeizig sind oder aber weil sie einen Sport lieben, der eben etwas riskanter ist. Wenn ich überlege, wie oft bei uns ein Krankenwagen kommen muss, weil mal wieder jemand in der Skaterbahn blöd gestürzt ist. Aber würde man da überlegen, dass man seinen Kindern besser die Bewegung an der frischen Luft verbieten sollte, weil es ja theoretisch zu einem Unfall kommen könnte? Wäre das realistisch?
So lange man den Kopf ausreichend schützt, sehe ich da kein Problem, wenn man auch ein Kind mit Handycap an die Selbstständigkeit heran führt. Denn gerade Motorik ist zum großen Teil gelernt und nicht nur angeboren. So lange das Kind in der Lage ist, Fortschritte zu machen, und seien diese noch so klein und sei der Fortschritt noch so langsam, würde ich meinem Kind immer die Möglichkeit geben, zu lernen und sich zu entwickeln.
Das ganze Leben ist Risiko. Ein Kind kann auch völlig unverschuldet auf dem Schulweg tot gefahren werden. Es deshalb nicht zu Schule zu schicken, wäre auch bekloppt. Ich denke eher, dass da ein altmodisches und vorurteilsbehaftetes Denken gegenüber Menschen mit Behinderung zum Vorschein kommt, weniger echte Fürsorge. Es wundert mich auch gar nicht, dass die Mutter mit ihrem Konzept recht behalten hat.
Menschen verletzen sich doch immer, egal ob Kind oder Erwachsener, egal ob behindert oder kerngesund. Wie vor mir schon erwähnt wurde, kann man jeder Zeit beim Überqueren der Straße platt gefahren werden und dann ist es vorbei.
Ich würde keinen Unterschied zwischen einem behinderten Kind und einem gesunden Kind machen. Ich finde, man sollte ein Kind nicht in Watte packen wie so eine Über-Mama und Helikopter-Mutter, so lernt das Kind nichts dabei und es schadet mehr als es nützt. Es ist eben wichtig, einen guten Mittelweg zu finden.
Ich habe ein Kind, welches ebenfalls mit motorischen Defiziten zu kämpfen hat. Als Außenstehender sieht man ihm das nicht sofort an, aber wenn man ihn beobachtet, bemerkt man es auf jeden Fall. Mein Sohn hat sehr lange mit starken Gleichgewichtsproblemen zu kämpfen gehabt und fiel sehr oft hin. Zudem hat er einen schwachen Muskeltonus und kam zum Beispiel Treppen damals nur sehr schwer hoch.
Ich habe ihn immer animiert, auf Bäume zu klettern, auf Mauern zu balancieren, zu hüpfen, irgendwo herunterzuspringen. Auch heute üben wir noch viel. Derzeit sind wir beim Fahrradfahren lernen ohne Stützräder dabei. Viele Leute sagen, ich soll ihn das alles nicht machen lassen, es wäre zu gefährlich, er könnte leichter stürzen als gesunde Kinder.
Die Leute mögen recht haben. Natürlich verliert mein Kind leichter das Gleichgewicht als andere Kinder, natürlich hat mein Sohn mehr Probleme, wenn er auf einen Baum klettert und natürlich ist es für meinen Sohn immer noch nicht einfach, alleine über eine Mauer zu balancieren. Aber wenn er es nicht übt, wird er es vielleicht nie können.
Mein Sohn hat oft Angst, aber er ist ein Kämpfer und er gibt nicht auf. Er ist immer sehr hartnäckig, weil er gewissen Dinge endlich können möchte. Es ist immer mit einer riesen Anstrengung verbunden, aber wenn er es dann endlich kann, ist er stolz wie Oskar.
Ich kann die andere Mutter da sehr gut verstehen und würde sagen, sie hat alles richtig gemacht. Es ist gut, dass sie nichts auf das Getratsche der anderen Leute gegeben hat und ihren Weg mit ihrem Kind fortgesetzt hat. Sie wird am besten wissen, was das Beste für ihr Kind ist. Eine Mutter spürt so etwas einfach.
Wieso sollte bei einer geringfügigen motorischen Einschränkung eine stark erhöhte Unfallgefahr vorliegen oder gar eine Behinderung? Das Kind hat sich sicher nicht 2x im normalen Haushaltsgeschehen schwer verletzt, weil es einen steifen Daumen hatte, sondern hätte sich so oder so verletzt.
Ich finde die Mutter total klasse, denn sie hatte den Mut für ihr Kind zu kämpfen obwohl von vielen Seiten Gegenwind kam. Meiner Meinung nach hat sie alles richtig gemacht. Natürlich sollte man sein Kind nicht in total gefährliche Situationen bringen, aber es zu ermutigen sich und seine Fähigkeiten zu trainieren und zu stärken, halte ich für völlig richtig.
Außerdem schützen begleitete Grenzerfahrungen vor späteren Gefahren. Als das Kind noch klein war, hatte die Mutter ein Auge drauf, es waren deshalb wohl kaum lebensgefährliche Situationen. Hätte die Mutter aber verhindert, dass das Kind sich entwickelt, um es vor Gefahren zu schützen, wäre die Gefahr groß, dass sich das Kind jetzt selbst in Gefahr bringt.
Denn jetzt ist die Mutter nicht mehr dabei und Jugendliche testen ihre Grenzen. Da wo die Mutter das Kind früher animiert hat, über Baumstämme zu klettern, klettern Jugendliche heute auf hohe Bäume. Es ist also sehr sinnvoll, dass das Kind vorher geübt hat, denn so ist sie Gefahr geringer, dass er sich überschätzt und von anderen Kindern mitziehen lässt.
Ich denke, dass das eine gute Mutter ausmacht. Man muss seinem Kind auch ein bisschen etwas bieten im Leben und Grenzen sollte es sicherlich geben, aber man muss auch mal ein bisschen über den Tellerrand sehen und dem Kind auch Erfahrungen gönnen. Man kann ja auch viel sagen, es kann immer etwas passieren und auch wenn die Wahrscheinlichkeit bei de Kind höher ist, würde ich es klettern lassen.
Für das Kind ist das auch unglaublich gut, wenn es weiß, dass es das eigentlich nicht können sollte und es dann doch mal versuchen darf. Ich denke, dass das auch gut für die Beziehung zwischen der Mutter und dem Kind ist. Diese wird ja auch aufpassen und die Übungen mit dem Klettern sind sicherlich auch dienlich. Wenn man dann nichts macht, wird es ja auch nicht besser.
Das Kind ist aufgrund seiner Behinderung, die motorische Einschränkungen zur Folge hat, erheblich stärker unfallgefährdet gewesen. Falls das eingangs nicht deutlich zum Ausdruck kam, entschuldige ich mich.
Ich denke auch, dass die Mutter mit ihrem Verhalten dazu beigetragen hat, dass das Kind jetzt ein fast normales Leben hat. Die Prognose war, als es ein guten Jahr alt war, ziemlich unschön. Angeblich hätte es niemals normal laufen lernen können und sei geistig eingeschränkt.
Tatsächlich gab es Situationen, in denen auch mir damals vor Schreck schlecht geworden ist. Wenn das Kind fiel und mit dem Kopf auch nur leicht aufschlug, wurde es oft danach bewusstlos. Das habe ich ein Mal mitbekommen und war ziemlich erschrocken. Die Mutter hat es dann einfach aufgehoben, an sich gedrückt und es nach Hause getragen.
Während sich andere aufgeregt haben, wie die Frau nur so ruhig bleiben konnte, habe ich sie ehrlich gesagt ein bisschen bewundert. Ich weiß nicht, woher sie die Nerven genommen hat, das immer wieder mit anzusehen und trotzdem den Mut nie zu verlieren.
Aber wie bereits gesagt: Die Rechnung der Mutter ist aufgegangen. Dem Kind geht es gut und ein Laie sieht ihm seine Behinderung nicht mehr an. Es besucht eine Regelschule und kommt gut zurecht. Das wäre vermutlich nicht so gewesen, wenn sie das damalige Krümelchen in Watte gepackt hätte.
Ähnliche Themen
Weitere interessante Themen
- Oberflächliche Bekannte, die einem etwas verkaufen wollen 1189mal aufgerufen · 11 Antworten · Autor: celles · Letzter Beitrag von Gorgen_
Forum: Freizeit & Lifestyle
- Oberflächliche Bekannte, die einem etwas verkaufen wollen
- Findet ihr Veganer die Eier essen seltsam? 1156mal aufgerufen · 16 Antworten · Autor: M. Mizere · Letzter Beitrag von Wibbeldribbel
Forum: Essen & Trinken
- Findet ihr Veganer die Eier essen seltsam?
- Kind bekommt von Mutter nur Toastbrot - noch normal? 524mal aufgerufen · 9 Antworten · Autor: Ramones · Letzter Beitrag von Wibbeldribbel
Forum: Familie & Kinder
- Kind bekommt von Mutter nur Toastbrot - noch normal?
- Fürs Abendessen im Hotel besonders hübsch aussehen wollen? 1141mal aufgerufen · 13 Antworten · Autor: Prinzessin_90 · Letzter Beitrag von Wibbeldribbel
Forum: Urlaub & Reise
- Fürs Abendessen im Hotel besonders hübsch aussehen wollen?
- Auf amerikanische Rezepte wegen Umrechnung verzichten? 391mal aufgerufen · 4 Antworten · Autor: Crispin · Letzter Beitrag von Wibbeldribbel
Forum: Essen & Trinken
- Auf amerikanische Rezepte wegen Umrechnung verzichten?