Fettsucht kontra Magersucht
Da hier ja oft genug, Menschen mit Übergewicht als unkontrolliert fressende Wesen, die noch dazu scheinbar in anderen Galaxien wohnen, eher schlecht geredet wird, einfach mal so meine Betrachtungen.
Ich selbst war immer übergewichtig. Solange ich denken kann. Schon im Kindheitsalter wurde Adipositas ( Fettsucht) diagnostiziert. Begleitet von diversen Versuchen mich dazu zu bringen weniger zu Essen bis hin zu einer Kinderkur zum Abnehmen, die mir an sich nur die Erkenntnis brachte, das meine Eltern mich wohl nicht lieb haben, weil ich nicht dünn bin. Was aber an meinem Übergewicht auf Dauer nichts geändert hat. Weil die Grundlage für diese Form der Essstörung einfach psychisch war.
Ich zog mit 20 Jahren von daheim aus. Die Probleme im Elternhaus waren erst mal weg und ich nahm im ersten halben Jahr nach dem Auszug 30 Kilogramm ab. Hatte zwar immer noch Übergewicht, aber halt nicht mehr extrem. Und ich hatte mit dem neuen Körpergewicht und meinem scheinbar neuen Aussehen irgendwann enorme Probleme. Leute die mich früher mit dem Arsch nicht angeschaut habe, redeten auf einmal mit mir. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Am meisten getroffen hat mich an sich das Lob meines Vaters zu meiner Gewichtsabnahme. Geschah eher zufällig und beiläufig. Es war das allererste Mal in meinem Leben das mein Vater mich gelobt hat. Und das nur weil ich dünn war? Ich war doch kein anderer Mensch.
Als ich Mitte 20 war, wurde bekannt, das eine meiner Cousinen Magersucht hat. Sie war damals etwa 13/ 14 Jahre alt. Sie wohnt weiter weg und Kontakt bestand an sich nur von meiner Mutter zu einer anderen Tante des Mädchens. Klar hat mir meine Mutter das erzählt. Wir sprachen auch über die Vermutungen was wohl im Elternhaus vorgefallen ist etc. pp. Im Endeffekt lief es auf ein: Ach das arme Mädchen hinaus.
Und genau das ist die Erfahrung die ich immer wieder in meinem Leben erfahren und miterlebt habe. Bei magersüchtigen Mädchen oder Frauen wird immer gleich gesagt, ach das arme Kind etc. Die hat bestimmte ganz dolle Probleme etc. Bei dicken Menschen wird gleich gesagt, ach Fress doch nicht soviel. Die essen nur aus Langweile. Die haben keine Disziplin. Die sind nur zu faul etc pp.
Oder so Erfahrungen wie wenn man mit einer dünnen Freundin weggeht und man nachher nicht als eigenständiger Mensch angesehen wird, sondern nur als Freundin von der dünnen, tollen Frau.
Das ist nur wieder ein weiteres Beispiel unserer großteils kranken Gesellschaft, dünn wird nie kritisiert - ist auch noch IN siehe Models, etc. - und dicke sind immer die "bösen". Siehe Fernsehen, Zeitung und Plakate. Dünne Models und viele mit Magersucht sind begehrt und überall zu sehen, sie werden als MODELS bezeichnet. Dicke Frauen, die modeln, sind Frauen die faul sind, zu viel essen aber sich unbedingt ins Rampenlicht stellen wollen. Das ist NICHT meine Meinung, sondern so wirds uns jeden Tag gezeigt. Warum sind nicht beide Varianten Models? Das versteh ich wirklich nicht und mollige Models sind mir lieber als Magersucht Models.
Ein weiterer Faktor warum vermutlich im Gedächtnis schlanke Frauen&Männer begehrt sind, ist die Pflege bzw. Gesundheit. Bei ausgewogener Ernährung und etwas Sport ist man schlank, also bedeutet das, dass schlanke Menschen auf sich schauen und pflegen, das ist natürlich am schönsten. Daher hast du beim weggehen die Blicke eher auf schlanke Frauen. Wenn man schlank ist bekommt man auch "du siehst gut aus" das könnte man aber auch so ausdrücken "hey du schaust aus als würdest du dich pflegen und auf dich achten" - also nicht nur oberflächlich.
Ich habe auch - nach dem ich mittlerweile fast 40 Kilogramm runter habe - die Erfahrung gemacht, das Leute einem erzählen, was sie früher wirklich von meinem Gewicht gehalten haben, wie abstossend sie es wohl gefunden haben müssen.
Klar finde ich so ein Kompliment wie "Man schaust du jetzt gut aus" echt toll, aber ich komme da dann doch schon ins grübeln. Das ist irgendwie so ein zweischneidiges Schwert. Klar ist es toll, wenn den Leuten auffällt, dass man etwas an sich tut, aber nur dafür gelobt zu werden, dass man sich nicht mehr gehen lässt ist schon eigenartig.
Mit dem Mitleid und den Unterstellungen zwischen dürr und dick kenne ich mich aber auch gut aus. Der eine Kollege kann futtern wie doof und nimmt nicht zu, weil er eben Probleme mit Klebeeiweissen hat und die somit nicht verarbeiten kann, da heisst es dann "Oh der Arme", das ich so rund war, weil es mir psychisch echt schlecht ging sieht keiner, da hiess es dann immer nur "Disziplin" und dieser ganze Blafasel.
Ich denke, dass manche Menschen immer noch nicht begreifen, dass manche übergewichtigen Leute krank sind. Es heißt dann meistens nur, dass sie viel essen und faul sind. Aber dicke Menschen können krank sein und durch Medikamente so geworden sein oder eben durch Fettsucht. Leider kennen die Meistens nur Magersucht und Bulimie, da dies oft genug durch die Medien geht. Aber über Fettsucht wurde bisher nicht viel berichtet.
Du scheinst ja wirklich schon einiges mitgemacht zu haben. Und es ist schon traurig, dass du dir ein Lob deines Vaters so erkämpfen musstest. Hast du denn jemanden, der zu dir steht und dich aufbaut, wenn es dir mal schlecht geht? Wie lebst du denn heute mit der Krankheit? Hast du eine Therapie gemacht?
Magersucht und Fresssucht hängen ganz dicht aneinander. Und ich kann auch nicht verstehen, dass man im Bus zum Beispiel einer sehr fettleibigen Person, die wegen ihrem Gewicht kaum stehen kann weniger einen Platz anbietet, als einer Frau, die aussieht, wie der Tod, weil sie so dünn und blass ist, dass man denkt, sie bricht zusammen. In dem Thread wurde sogar abfällig von den dicken Leuten gesprochen. So würde man nie von Magersüchtigen menschen reden. Mit denen hat man eher Mitleid.
Warum ist das aber so? Ist es denn so abwegig, dass man, wenn man dick ist auch krank ist. Klar ist das meiste angefressen. Aber warum ist das so? Es kann durchaus sein, dass es krankhaft bedingt ist, wenn jemand in sich alles hineinfrisst und dadurch dick ist. Und da man es ja einfach nicht sehen kann, ob es so ist, sollte man eigentlich nicht die Vorurteile haben, die viele gegen die dicken Menschen haben.
Dass aber vom Krankheitsbild der Magersüchtige und der Fresssüchtige sehr dicht beieinander liegen , verdrängen die meisten. Beides ist eine Essstörung. Beides ist eine psychische Störung und beides sollte mit Respekt behandelt werden und auch dicke Menschen sind keine Menschen 2. Klasse.
Magersüchtige Frauen sehen meist sehr zerbrechlich aus, wecken vermutlich weit eher einen Beschützerinstinkt, als es eine Frau von 150 kg tut. Das könnte ich mir als Erklärung vorstellen, warum den Magersüchtigen mit mehr Verständnis, Mitleid und Hilfestellung begegnet wird, als den Übergewichtigen.
Dazu kommt noch: Man gibt den Übergewichtigen selbst die Schuld. In den meisten Fällen ist das sicher gerechtfertigt, aber es wird nicht hinterfragt, was genau denn der Grund fürs Übergewicht ist. Klar kann das schlicht Faulheit sein; Bewegungsmangel in Kombination mit einer schwäche für kalorienreiches Essen. Oft stecken aber genauso auch seelische Probleme hinter Übergewicht, gar nicht so selten ähnliche oder sogar die gleichen wie bei jenen, die hungern.
Dann hat das auch noch viel mit dem Schönheitsideal unserer Zeit zu tun. In sämtlichen Filmen, serien und auf zeitschriften sieht man superschlanke Frauen. Auf den Laufstegen sowieso. Zwar hat sich die Kleidungsindustrie entsprechend angepasst und auch jenseits von größe 42 sind inzwischen schicke Sachen zu bekommen, aber das Schönheitsideal ist immer noch gertenschlank. Ein Mannequinn vor 60 oder 70 Jahren wäre heute ein übergewichtiges Model. Nicht, weil sie wirklich übergewichtig wäre, sondern weil sie für ein Model zu viel auf den Rippen hätte.
Ich habe eine ziemlich dicke Freundin. Genauer gesagt, ist sie sogar meine beste und älteste Freundin. Wir kennen uns, seit wir sechs Jahre alt sind. Sie ist sehr klein und war noch nie richtig schlank, geschweige denn dünn. Eigentlich ist sie genau das Gegenteil von mir. Dazu ist sie auch noch sehr klein.
Mein Freundin hat in ihrer Jugend verzweifelt versucht ihr Gewicht auf normal zu trimmen. Leider ist das immer ins Gegenteil umgeschwungen. Und als sie dann noch, da war sie allerdings schon schwer übergewichtig, mit Zwillingen schwanger wurde, ist das Kind komplett in den Brunnen gefallen. Aber sie versteckt sich nicht und steht offen zu ihren Problemen. Bei ihr ist es so, daß sie eigentlich Genuß bedingt, zu viel wiegt. Sie muß sich auch viel von den Ärzten anhören, da sie leider im Alter von 31 Jahren bereits Schwierigkeiten mit den Knochen hat. Einen Aufenthalt in einer Kur hat sie auch schon hinter sich. Getrost dem Motto drei Kilo runter und fünf Kilo drauf, was dieser nicht wirklich effektiv.
Ihr ist auch bewußt, daß sie aus dem Rahmen fällt, wie man so schön sagt. Aber diese Frau ist so selbstbewußt und lebensfroh, da kommt keine Magersüchtige je dran. So eine Person habe ich auch schon kennenlernen dürfen. Es ist eine Katastrophe, wie die ihren Alltag gestaltet hat. Alles hat sich nur um Kalorienzählen, Essen oder Hungern und Schönheit gedreht.
Wobei letzteres sowieso im Auge des Betrachters liegt. Ich beneide keine dieser dürren Models. Die wenigsten haben dieses Gewicht, ohne sich dafür in irgend einer Art und Weise quälen zu müssen. Natürlich werden sie bewundert und als absolutes Vorbild für die "normalo Frau" dargestellt. Jedoch wer sich in dieses Schema pressen lassen will, hat schon verloren. Man kann auf jeden Fall Mitleid mit den hungernden Damen haben. Aber an Neid ist da nicht zu denken.
Anders sieht es, zumindest bei meiner Freundin, aus. Ich beneide sie, im positiven Sinne, um ihr Selbstbewußtsein. Sie würde eher wütend werden, wenn sie irgendjemand bemitleiden würde. Ich habe sie niemals, egal was sie gewogen hat, nach ihrem Äußeren beurteilt. Sie war einfach das liebe nette Mädchen, mit der man durch alle Höhen und Tiefen gehen konnte und kann. Und das würde ich mir auch von den anderen Mitbürgern wünschen. Man sollte niemals nur nach seinen Körpermaßen be- oder verurteilt werden.
Falls sie es wirklich schaffen würde abzunehmen, müßte ich es mir zweimal überlegen, ob ich sie dafür lobe. Gerade was LittleSister beschrieben hat, kann zu einer regelrechten Sucht werden. Nach dem Motto: Wenn ich Aufmerksamkeit, Zuneigung und Lob haben möchte, muß ich an Gewicht verlieren. Das ist doch furchtbar und krank. Und kann bestimmt auch einen Einstieg in eine Magersucht unterstützen.
Was die TE hier geschrieben hat, kommt mir ziemlich bekannt vor und erinnert mich an meine eigene Geschichte. Ich sag immer, ich bin der wandelnde YoYo Effekt. Richtig schlank war ich nie, schon in der Schule das Pummelchen, dann wurde es mit Auszug von Zuhaus besser, aber in jeder Krise kam wieder was drauf.
Irgendwann legt man sich einen Panzer zu, redet sich ein, es ist egal, was die lieben Mitmenschen denken. Natürlich ist es das in Wirklichkeit nicht. Es schmerzt schon, beinahe als Mensch zweiter Klasse angesehen zu werden. Ich habe im Laufe der Jahre auch fast einen Waschzwang entwickelt. Wer kennt nicht das Vorurtei: Die ist dick, die riecht doch sicher nach Schweiß. Nun, ich hab eher Hautprobleme vom zu viel duschen.
In unserer Gesellschaft wird immer soviel von Toleranz geredet. Beim Thema Übergewicht scheint diese viel gepriesene Toleranz nicht nötig zu sein.
Ich empfinde das überhaupt nicht so wie du. Ich habe einige Jahre unter Magersucht gelitten und zu mir hat in meinem Umfeld nie jemand gesagt, ich sei ein armes Mädchen und habe sicherlich ganz große Probleme, sondern eigentlich wurde immer nur gesagt, dass das ein Druckmittel meinerseits wäre und ich aufhören solle mich so wichtig zu machen. Du aus deiner Sicht kannst natürlich nur beurteilen wie es dir ergangen ist und mich wundert es schon ein bisschen, dass du andere, sehr ähnliche, Krankheiten als Konkurrenz zu deiner empfindest. Eigentlich hast du ja selbst schon zugegeben, dass du gerne Mitleid gehabt hättest oder wen, der sich um dich sorgt, aber genau das ist doch das Problem an der Sache.
Niemand in deinem Umfeld ist heute noch Schuld an deiner Krankheit. Ich verstehe zwar, dass man leicht in sowas reinrutscht, besonders wenn man innerhalb der Familie große Probleme hat, das war bei mir auch nichts anders. Aber heute bin ich einfach in einem Alter in dem ich nicht mehr so einfach sagen kann, dass andere Leute an meinen Krankheiten Schuld haben. Du bist doch mittlerweile auch erwachsen und du bist für dich selbst verantwortlich und wenn du noch immer Übergewicht hast, solltest du nicht darüber nachdenken, dass Leute mit Magersucht mehr Mitleid bekommen als du, sondern du solltest dich fragen, wieso du es nicht hinbekommst, einfach mal Hilfe anzunehmen. Meinst du Mitleid ist eine geeignete Art von Hilfe? Meinst du, wenn man Mitleid erntet ist das hilfreich für den Heilungsprozess? Sicherlich nicht.
@ Sippschaft
ich habe während meiner Kindheit nie um Mitleid gebettelt. Auf den Gedanken wäre ich nie gekommen. Aber durch mein Übergewicht, blieben sicherlich elterliche Handlungsweise aus, die es gegeben hätte, wenn ich normalgewichtig gewesen wäre. Oder auch Sachen vorkamen, die nicht passiert wären, wäre ich normalgewichtig gewesen.
Diskussionen ala Kind du musst essen, gab es nie. Da hat sich mit Sicherheit auch keiner Sorgen drum gemacht, weil ich ja genügend auf den Rippen hatte. Vielleicht wäre diese elterliche Handlungsweise aber nötig gewesen? Was mir heute definitiv fehlt, sind so Sachen auf die Menschen die quasi normal sind automatisch zurückgreifen können, einfache Grundbedürfnisse, die bei mir nie wirklich erfüllt wurden. Und mein "gesundheitliches" Problem ist auch definitiv nicht Adipositas, sondern eine Borderline Erkrankung. Und ich habe auch im Rahmen dieser Erkrankung nie offen um Aufmerksamkeit und Mitleid gebettelt. Ich bin keine die mit sichtbaren Narben oder Wunden rumläuft um zu zeigen: Seht doch wie schlecht es mir geht oder mal ging. Das ist was, was ich zum Grossteil mit mir selbst ausmache. Der einzige Mensch der da mehr über die Häufigkeit weiss, ist mein Therapeut. Und der erfährt es auf keine direkte Weise.
Weisst du, wenn ich so jemand im Bus getroffen hätte wie du ( dein Thread war einer der Gründe den hier zu öffenen, aber halt nur einer von vielen), ich hätte genauso gehandelt. Ich wäre auch nicht aufgestanden. Was mich mehr "störte" war diese Verallgemeinerung. Alle dicken Menschen fressen nur masslos. Das stimmt so definitiv nicht.
Und klar bin ich erwachsen. Und noch dazu hatte ich das "Glück" eine Ausbildung geniessen zu dürfen, die im Endeffekt einem halben Oectrophologiestudium gleicht. Ich habe das Grundwissen etc. Am Umsetzen hapert es, gebe ich zu. Was aber einmal daran liegt, das ich mehr Theoretikerin als Praktikerin bin und irgendwie ist an dem Spruch: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr, auch was wahres dran. Ich bin, wenn ich mich recht entsinne, ein ganzes Stück älter als du. Als ich noch jünger war, habe ich auch zu vielen Verhaltensweisen meiner Eltern gesagt, so werde ich nie! Und ich erwische mich in manchen Dingen immer wieder, die ich heute so mache wie meine Eltern.
Es geht mir mit Sicherheit nicht darum zu wetteifern, welche Essstörung schlimmer ist oder so. Mir geht es um den generellen Umgang und die Verallgemeinerungen.
@ Nehlchen
Zu Zeit läuft Adipositas nicht als diagnostizierte Krankheit bei mir. Will ich auch nicht mehr. Für mich ist eine Essstörung etwas, was zu meiner Erkrankung Borderline dazu gehört. Quasi ein Teil der Borderline- Erkrankung, oder eine Nebenerkrankung. Und Borderline und Essstörungen treten oft zusammen auf. Ich für meinen Teil habe noch keinen Borderliner kennengelernt, der Normalgewicht hat. Was nicht heisst, das es die nicht auch gibt. Die Borderline- Erkrankung wird mehr oder weniger behandelt. Sprich ich befinde mich in Therapie. Aber über meine Essstörung mag ich da nicht reden und ich weiss, das mein Therapeut da bisher auch keinen Bedarf für sieht.
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